...der alte Frankfurter Wahlspruch: „Lewe un lewe lasse“, er gilt wie eh und je. Was aber nicht ausschließt, daß man sagt was man denkt, Grobheiten eingeschlossen. Zu diesen Grobheiten steht man dann auch gefälligst. In Sachsenhausen charakterisiert man sich so: „Mer sinn zwar grob, awwer mer maanes aaeh so.“ Mit Schmus und dahergeredeten Floskeln gibt sich zwischen Main und Nidda niemand ab. „Redd net rum, was willste?“ heißt es kurz und bündig. Den Handkuß haben die Frankfurter mit Sicherheit nicht erfunden. Und für höfische Kratzfüße fehlte es seit jeher an Gelegenheiten. Getue und Geziertheit sind den Frankfurtern herzlich zuwider.
Vergeblich wird man gesellschaftliche Cliquen, die High Society, eine sogenannte Salon-Mafia suchen. Gesellschaftskolumnisten haben es schwer, ihre Klatschspalten zu füllen. Wo keiner Hof hält gibt es auch keine Hofberichte. Manche bedauern das. Vielleicht ändert sich das einmal, wenn all die vielen Neureichen, —gegen die hier niemand etwas hat, sie passen in die Stadt, — sich endlich zusammengefunden haben, in 20 oder 50 Jahren, und eine neue Salon-Klasse bilden, falls dann noch jemand weiß, wie ein Salon aussieht. Vorläufig ist die Frankfurter Geldaristokratie noch ein ziemlich lockeres Häuflein, das nur ganz am Rande in Erscheinung tritt. In München oder Hamburg oder an der Ruhr soll das anders sein. Der Schmelztiegel Frankfurt hat einen zu harten Boden, als daß sich das Pflänzlein hochgespannter gesellschaftlicher Attitüde aufranken könnte.
Doch steigen wir herab von den mehr oder weniger maßgeblichen Theorien und Mutmaßungen über Frankfurts soziales Gefüge. Steigen wir herab von den Türmen. Bleiben wir aber noch im Umkreis ihrer langen Schatten, bleiben wir in der Innenstadt. Begeben wir uns zum Beispiel an einem lichten Sommertag in den Oeder Weg.
Er beginnt unten, im Orkus der Großstadt, in der U-Bahn-Ebene am Eschenheimer Turm. Wer dem schwarz-weißen Schild folgt und einige Treppen steigt — Rolltreppen gibt es nur an den Ausgängen zur City — blickt am Volksbildungsheim vorbei in eine enge dunkle Großstadtstraße. Kein Baum, kein Strauch trösten den Blick. Rechts und links im Krieg stehengebliebene Altbauten, manche verstaubt, einige frisch gestrichen, wenigstens das. Dazwischen schießt der Verkehr. So richtig schön laut und stinkend ist der Anfang vom Oeder Weg. Am liebsten würde man diesen Schlauch wieder verlassen. Aber man muß, Nasen zu, Ohren zu, hindurch. Doch schon nach den ersten fünfzig flott gegangenen Metern stockt der Schritt. Ein Antiquariat mit Briefmarken, Münzen und anderem Zeug vergangener Tage zwingt, ein schnelles Auge ins unordentliche Schaufenster zu werfen. Und so geht es weiter: In den muffigen Erdgesehossen zwischen hell und dunkel haben sich allerlei Läden eingenistet und fangen den Blick des Vorübereilenden. Und als der Schlauch schließlich geschafft ist, verspürt man fast ein leichtes Bedauern. Mit dem Charme einer alternden Diva hat der Oeder Weg den Passanten besänftigt.
Links tobt der Verkehr jetzt in den schwarzen Kanal der Querstraße, die nicht nur so heißt, hinüber zur Eschenheimer Landstraße. Rechts mündet die Jahnstraße ein.
Die Kreuzung ist heimtückisch und erfordert alles Können des verkehrserprobten Großstädters. Auf das Grün der Fußgängerampel zu warten ist sinnlos. Nach allen Erfahrungen wird es an dieser Ampel für Fußgänger nie grün. Neuerdings haben sie auf die Kreuzung eine Verkehrsinsel gesetzt, was die Sache aber auch nicht wesentlich verbessert hat. Ist man schließlich heil hinübergespurtet, wartet auf den so Geprüften die große Überraschung. Mit einem Schlag wechselt der Oeder Weg das Bild und zeigt, wie er wirklich ist. Die Straße wird zur Landschaft. Eine breite, sanft bergauf geschwungene S-Kurve zieht sich dreihundert Meter weit, fast bis zur Hermannstraße. Ein riesiger Ahornbaum, mehr als vier Stockwerke hoch und im Sommer mit dickem Grün belegt, herrscht darüber. Von links fließt der Bornwiesenweg mit Bäumen und Sträuchern herein, und weiter oben bringen auch die Finkenhofstraße und der Oberweg noch etwas Grün dazu. Von diesem Straßenstück behaupten Kenner Frankfurts — und nicht nur die, die dort wohnen —‚ es sei einer der schönsten Flecken im ganzen Stadtgebiet.
Entlang der Kurve findet der Mensch denn auch alles, was er braucht und noch vielmehr, was er nicht braucht. Das ganze Viertel rechts und links, zwischen Eckenheimer und Eschersheimer Landstraße versorgt sich aus diesem Teil des Oeder Wegs. Vom Hosenknopf über Kanarienvögel bis zum fabrikneuen Klavier ist alles zu haben. Da Konkurrenz bekanntlich das Geschäft hebt, sind Möbelhaus, Modeboutique, Supermarkt, Apotheke und ein halbes Dutzend weiterer Branchen gleich doppelt und dreifach vertreten. Es gibt Cafes, in denen man frühstücken kann, Pizzabäcker und eine Würstchenbude, die bis spät in die Nacht geöffnet hat.
Die Geschäftswelt des Oeder Wegs weiß, was Marktwirtschaft bedeutet. Der Kampf um die Stammkundschaft wird täglich mit Hingabe und Sonderangeboten aufs Neue geführt. Wozu die Zeil Konzerne braucht, das erledigen hier «de Scheff un sei Fraa« persönlich. Hinter der Ladentheke ist Frankfurterisch noch Verkehrssprache. Beim Metzger lautet die Antwort.» Derf‘s e bissi mehr sei?«. Beim Bäcker lautet die Antwort: «De Kwetsehekuche is all«. Da die Läden fast durchweg zu klein sind, wird auch unbekümmert vom Bürgersteig, vom «Trottewa« Besitz ergriffen. Jeden Morgen werden eifrig Verkaufsstände aufgebaut und Kohl, Radieschen und Birnen draufgetürmt. Ein- oder zweimal in der Woche hängen selbstgeschossene Feldhasen — noch mit Fell —und ungerupfte Rebhühner zum Verkauf. Das Ladenschlußgesetz gilt für den Oeder Weg nur bedingt. Wer nach 18.30 Uhr kommt, kriegt auch noch was. Als Einkaufsstraße ist der Oeder Weg, nach Meinung aller, die da wohnen, besser als die Zeil, «e klaa Herrlischkeit«.
Außer Kaufläden gibt es
noch etwas Besonderes im Oeder Weg:
Handwerker. Der Schuster
sohlt die Schuhe für Preise, die es nicht erforderlich machen, sie bald
wegzuschmeißen. Ein richtiger Schlosser feilt richtige Schlüssel, ein Schneider
näht die Gürtelschlaufe an — und als seltene Kostbarkeit, ein Polsterer, der
den alten Sessel renoviert. Das alles gibt‘s im Oeder Weg.
Samstags morgens, beim Einkaufen, lernt man die Leute vom Oeder Weg kennen. Oft junges, zugezogenes Volk, das in den Wohnvierteln rechts und links in drei Meter zwanzig hohen Altbauwohnungen seine Nostalgie auslebt. Seit ein paar Jahren übt die Gegend, das sogenannte Nordend eingeschlossen, bis hinauf nach Bornheim, eine geradezu magische Anziehungskraft vor allem auf die Jüngeren aus. Sie flüchten auf die wenigen Inseln der Urbanität, die sich, im gesamten Stadtgebiet verstreut, vor allem in den Vororten, trotz Stadtplanung und Sanierung, trotz Banken und Baulöwen immer noch haben halten können. An ihren Rändern werden sie zwar tagtäglich gnadenlos von Baggern angefressen, die Platz schaffen für noch mehr Glas und Beton. Aber vorerst behaupten sie sich noch, in Bockenheim entlang der Leipziger Straße, in Sachsenhausen um den Schweizer Platz, in Niederrad und auch weiter draußen in den Vororten, in Rödelheim oder Seckbach. Allen voran aber steht das Viertel am Oeder Weg. Keine zehn Minuten Fußmarsch von der Hauptwache entfernt, sozusagen mitten drin, bietet Frankfurt hier noch eine Erinnerung an, intaktes städtisches Leben, eine Illusion zum Anfassen.
Aber auch viele ältere Frankfurter haben trotz Verkehrs und schlechter Luft in ihrem Oeder Weg ausgehalten. Sie gehen nach wie vor „mit de Schlappe iwwer die Gass un hole Bier“. Während der Einkaufszeiten stehen sie auf den Bürgersteigen herum und sichern die Kontinuität der Berichterstattung. Wie schon immer werden auf der Straßenbörse die neuesten Gerüchte, Halb-, und Dreiviertelwahrheiten aufbereitet und weiter gegeben. Stoffmangel gibt‘s da nie, gebabbelt wird über alles und auch die Nachbarschaft gibt genügend her. Was im Oeder Weg so gut wie fehlt, sind die mittleren Jahrgänge. Das gilt mehr oder weniger für fast alle Wohngebiete im engeren Stadtbereich. Viele sind längst hinaus aufs Land gezogen, meistens der Kinder zuliebe, wo die Wohnungen moderner sind und auch billiger, wo die Luft sauberer, der Verkehr geringer ist, wo es Kinderspielplätze und Parkplätze gibt. Das alles bietet die Stadt nicht oder kaum, wenn sich auch während der letzten Jahre vieles zum Besseren gewendet hat. Doch hier hat man Großstadtpflaster unter den Füßen, das Leben kribbelt auf der Haut und an jeder Ecke kann ein Sensatiönchen warten.
Damit es abends nicht langweilig wird, dafür sorgt im Oeder Weg nicht der Fernseher, sondern ein gutes Dutzend bürgerlicher, typisch Frankfurter Kneipen, mit hervorragenden Bratkartoffeln und gepflegtem Pils vom Faß. Dort lagern dann die Mitbürger am Tresen und verbreiten sich ausführlich und unbekümmert über Politik, “die Eintracht“ und Lebensmittelpreise. Sogar Skatspielen ist in einigen Lokalen erlaubt. Einsam braucht man im Oeder Weg auch nachts nicht zu sein; stumm hat jedenfalls noch keiner den ganzen Abend am Tresen gestanden.
Allerdings ist die Kneipenkultur entlang der Straße in letzter Zeit ein bißchen abgebröckelt. Unvergessen der „Menz“, oder wie sie offiziell hieß, die Zillestube, an der Ecke Oeder Weg und Bornwiesenweg. Das Haus ist abgerissen worden, heute gähnt da ein provisorischer Parkplatz. Der Menz, sagen wir es ruhig, war eine recht verlotterte Lokalität, die aus unerfindlichen Gründen zu Beginn der siebziger Jahre von den Theaterleuten des Theaters am Turm, von Studenten und Journalisten, Literaten und Zeichnern und darum herum gruppierten Gestalten zum Pflichtlokal gemacht worden war. Es ging, bis die Polizei für Ruhe sorgte, immer hoch her, und gesoffen haben sie wie die Bürstenbinder, Wirt und Personal eingeschlossen. Eckhard Henscheid hat dem Milieu in dem Roman „Die Vollidioten“ ein kleines literarisches Denkmal gesetzt. Den Menz gibt es nicht mehr, inzwischen haben sich aber im Viertel dutzendweise neue Kneipen aufgetan, die dem, der so etwas sucht, einiges bieten können.
Nun ist der Oeder Weg mit der “Kurve“ keineswegs zu Ende.
Nachdem der Adlerflychtplatz noch einmal mit einem guten Dutzend üppiger Kastanienbäume geprotzt hat, beginnt der obere Teil bis hinauf zur Eckenheimer Landstraße. Von der Lersnerstraße an wechselt der Oeder Weg die Kleider und präsentiert sich im Sonntagsstaat. Schnurgerade und eingesäumt von städtisch gepflegten Grünanlagen müßte er ab hier eigentlich „Oeder Allee“. heißen. Von diesem Bereich hat er auch seinen Namen. Daran erinnert ein schmiedeeisernes Gittertor zwischen schmuckvollen roten Sandsteinsäulen. Völlig unvermutet steht das Relikt zwischen den Büschen und Bäumen, direkt an der Straße. Wer durch das offene seitliche Portal seinen Schritt halblinks lenkt in eine würdige Kastanienallee, die auch so heißt, entdeckt, was es mit dem Tor auf sich hat. Am Ende der Allee steht das Holzhausenschlößchen aus dem 18. Jahrhundert. Mit einem Schloß hat es allerdings nur wenig gemein, es ähnelt eher einem besonders aufwendig gebauten Bürgerhaus. Beim Näherkommen sieht man, es ist sogar ein Wasserschloß. Uber den Holzhausenweiher führt eine steinerne Brücke hinüber. Es ist eines der wenigen gut erhaltenen baulichen Kleinodien der daran so verarmten Stadt. Das Geschlecht derer von Holzhausen zählt zu den ältesten und angesehensten in Frankfurt. Der Gutshof, der früher auf dem Gelände stand, wurde „Holzhauser Oed“ genannt. Das alte Gut ist zu Anfang dieses Jahrhunderts in eine öffentliche Anlage umgewandelt worden. Im Sehlößchen hat sieh das Museum für Vor- und Frühgeschichte eingerichtet.
Hier, um den Holzhausen Park, westlich vom Oeder Weg, wohnen in den gediegenen Villen und großräumigen Mehrfamilienhäusern „die bessere Leut“. Von hier an wird der Oeder Weg richtig langweilig. Wenn die Leute vom Oeder Weg sprechen, meinen sie immer den unteren Teil. Auf den sind sie stolz, den finden sie schön, von dem sagen sie: „Da wohne mir“. Auch wenn sie lieber weiter oben wohnten — aber wer kann sich das schon leisten?
Kehren wir um, schlendern wir den Oeder Weg wieder hinab, nähern wir uns dem Herzen der modernen Stadt. Tauchen wir ein in das geschäftige Gewimmel der City. Nehmen wir den Weg am Eschenheimer Turm vorbei, in dessen Wetterfahne der Wilddieb Hans Winkelsee der Sage nach mit seiner Büchse einen sauberen Neuner schoß und sich damit vor dem Galgen rettete. Wir gehen durch die Schillerstraße. Seit einigen Jahren ist sie Fußgängerzone und macht mit ihren exklusiven Einzelhandelsgeschäften der Goethestraße Konkurrenz. Der äußere Teil der Straße wird von der grauen Wucht des alten Verlagsgebäudes der “Frankfurter Neue Presse“ beherrscht. Einen Häuserblock weiter, in der Großen Eschenheimer Straße, im charakteristischen Rundschau-Haus redigieren die Redakteure noch heute die „Frankfurter Rundschau“, gedruckt wird sie außerhalb der Stadt, in Neu-Isenburg. Es ist das einzige Blatt, das noch in der Innenstadt „gemacht“ wird. Auch die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ ist schon vor bald zwanzig Jahren aus dem schönen alten Verlagsgebäude in der Biebergasse, Ecke Börsenstraße ausgezogen. Die „Presse“ und die „Allgemeine“ haben ihr Domizil jezt draußen, an der Mainzer Landstraße aufgeschlagen, kurz vor der Galluswarte. Zweifellos ein Verlust von Atmosphäre für die Innenstadt...