...Wie es in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der unmittelbaren Umgebung Frankfurts aussah, beschreibt Theo Reiffenstein so: »Wer jetzt um unsere Stadt herum die große Menge stattlicher Häuser betrachtet, welche ganze Straßen und Stadtviertel bilden, wird sich wohl schwerlich vorstellen können, daß im Jahre 1829 und 1830 beinahe noch kein Haus außerhalb der Tore zu finden war, und daß die Weizen-, Korn- und Kartoffelfelder bis dicht an die Promenaden heranreichten und nur durch die Fahrstraße von denselben geschieden waren. Sobald man aus dem Gallustore heraustrat, übersah man eine freie ununterbrochene Ebene bis an den Fuß des Gebirges hin. Nur das kleine, gelbe Wachthäuschen des ehemaligen Pulvermagazins bildete eine Art von Anhaltspunkt. Zwischen dem Gallus- und Untermaintore befand sich eine Art von Wintergarten, eine sogenannte Orangerie, geheizte Treib- und Aufbewahrungshäuser, durch welche man hindurchgehen konnte. Vor dem Eschenheimer Tore, nach dem jetzigen Kirchhofswege, wurde in schönen, bis beinahe in unsere Zeit herein noch erhaltenen Gebäuden ein ziemlich lebhafter Gemüsebau betrieben, die Gärtnerei genannt.«
Mitten durch das Frankfurter Westend verläuft der Kettenhofweg; gesäumt ist er von modernen Bürogebäuden und alten Villen in planlosem Wechsel - das zwiespältige Antlitz eines Stadtteils, der jahrelang einer zügellosen Bau- und Bodenspekulation ausgesetzt war. Aber dieses Schicksal ist dem Westend in unseren Tagen nicht zum ersten Mal widerfahren. Noch um 1830 sah es hier recht ländlich aus. Theo Reiffenstein schreibt darüber: »In der nächsten Umgebung der Stadt lagen zunächst die sogenannten Eschenheimer Wiesen, sowie die Wiesen am Kettenhof und Rüstersee. Abermals muß ich es hier beklagen, daß durch die in meiner Zeit gar zu sehr in die Breite gegangene Spekulationswut der größte Teil dieser wahrhaften Schönheiten für immer verloren ging, und kein noch so geübtes Auge die Stätte wiedererkennt. Die der Holzhausischen und Stalburgischen Ode zunächst gelegenen Eschenheimer Wiesen hatten bis zur Anlegung des neuen Friedhofes um das Jahr 1829 einen durchaus einsamen und abgeschlossenen Charakter. Es waren weite, saftige Rasenflächen, welche in allerüppigstem Grün prangten und durch ihre unmittelbare Angrenzung an die zunächst der Stadt gelegenen Gärten wundervolle nahe Spaziergänge und Erholungsplätze darboten. Die Eschersheimer Landstraße, welche dieselben nach der Westseite hin begrenzten, hatte damals kaum noch ein Haus aufzuweisen, sondern war durch lauter Gartenwände und lebendige Zäune begrenzt.
... Ebenso einsam und still lag auch der etwas weiter entfernte Kühhornshof. Er bildete mit seinen ihn umschließenden Wassergräben eines der reizendsten Bilder, die mir je vorgekommen sind.
Die sogenannten Zimmerwiesen vor dem Bockenheimer Tore, rechts ab von der Straße, die nach der Gallenwarte führt, waren das häufigste Ziel unserer Wanderungen. Der kleine Rest des Rüstersees, ein übrigens recht unheimliches und gefährliches Wasserbecken, wurde von uns mit allerlei Spuk bevölkert.
Die Kettenhöfe mit den herrlichen sie umgebenden Wiesen und dem schönen schattigen Wege dahin waren ebenfalls ein Hauptmagnet für uns Knaben.«
In historischen Abhandlungen wird meist vom Kleinen und vom Großen Kettenhof gesprochen, aber wirtschaftlich gesehen bildeten die beiden Höfe eine Einheit. Landwirtschaftlich bedeutungsvoll war nur der Große Kettenhof mit seinen Stallgebäuden und Scheuern, während der unmittelbar angrenzende Kleine Kettenhof eigentlich nur aus dem Wohnhaus für eine anspruchsvolle Patrizierfamilie bestand.
Um 1860 wird der Hof folgendermaßen geschildert: »Hinter dem sehr geräumigen, mit Scheuern und Stallungen und anderen Gebäuden besetzten Hofe befindet sich ein breiter Wassergraben und in dessen Mitte der steinerne Stock oder das alte Wohngebäude, sonst die Kothenöde genannt, woran noch einige Schießlöcher wahrzunehmen sind. Eine breite steinerne Brücke setzt den Hof mit dem alten Gebäude in Verbindung, und die Gegend um dasselbe verschafft im Sommer durch ihre mannigfaltigen Veränderungen im Grünen einen sehr angenehmen Aufenthaltsort. Zufolge einer Nachricht im Holzhausischen Archiv besaß Gipel Schilder zum Schildknecht, ein hiesiger Patrizier, 1390 einen Hof mit acht Morgen vor dem Bockenheimer Tor, jetzt der Kettenhof genannt. Dieser scheint der Kleine Kettenhof gewesen zu sein, der nachmals auch ein Eigentum der Koeten wurde und von ihnen gleichmäßig den Namen annahm.«
Selbst als das einstmals stattliche Anwesen im letzten Viertel des vergangenen Jahrhunderts verfiel, behielt das Wohnhaus des Kleinen Kettenhofes dennoch seinen Reiz und ließ die Behaglichkeit erahnen, mit der es einmal eingerichtet und bewohnt worden war. In den neunziger Jahren wurden die Gebäude niedergerissen, um einem neuen Frankfurter Stadtteil Platz zu machen. Heute erinnern nur noch die Straßennamen an die ländliche Vergangenheit des Frankfurter Westends, der Kettenhofweg an den Gutshof und die Rüsterstraße an den malerischen Rüstersee inmitten der Wiesen.
Lebendig steht die Vergangenheit vor uns, wenn wir das Holzhausenschlößchen in dem gleichnamigen Park besuchen. Man kann es sich vorstellen, daß hier einmal ein Gutshof stand, lange bevor das Wasserschloß errichtet wurde. Der Hof - die Holzhausen-Öde - wird bereits im 14. Jahrhundert erwähnt. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts wurde ein Mitglied der bekannten Familie von Holzhausen erstmals als Besitzer genannt. Zuvor sprach man von der großen Oede, die vor dem Eschenheimer Tor lag. Wenn auch davon berichtet wird, daß die Holzhausen-Öde ein beliebter Treffpunkt von Künstlern und Humanisten war, so schließt das nicht aus, daß der Hof bewirtschaftet wurde und mit seinen Erzeugnissen zum Wohlstand der Holzhausens beitrug. Mit Sicherheit wissen wir, daß zu dem Hof Weinberge auf dem Affenstein gehörten. Echte Frankfurter erinnern sich gewiß noch des gelegentlichen Stoßseufzers ihrer Eltern, nachdem sie mit einer schier endlosen Fragerei zu Ungeduld und Verzweiflung getrieben wurden. »Du bringst mich noch auf den Affenstein!« Gemeint war damit die Nervenklinik, die Dr. Hofmann, der Verfasser des "Struwwelpeter" errichtet hatte, sie lag in der Gegend, wo heute das IG-Hochhaus steht.
Einige Male mußte die Holzhausen-Oede den Kriegen ihren Tribut zollen; die Gebäude wurden zerstört, die Bewohner verjagt und die Felder verwüstet. Kein Wunder, wenn die Besitzer wenig Neigung zeigten, die Gebäude wieder aufzurichten, um sie bei der nächsten Gelegenheit, die niemals lange auf sich warten ließ, von neuem in Schutt und Asche niedergehen zu sehen. Sogar der Rat der Stadt selbst legte gelegentlich Hand an und scheute vor einer Zerstörung der Gebäude nicht zurück, wenn ihm dies aus Verteidigungsgründen ratsam erschien. So senkte sich lange Zeit Einsamkeit und Stille über die Holzhausen-Oede, bis in den Jahren 1727 bis 1729 das Holzhausen-Schlößchen in französischem Barockstil entstand. Heute ist in ihm das Museum für Vor- und Frühgeschichte untergebracht.
Noch 1861 schrieb Battonn: »Er ist einer der ansehnlichsten Meierhöfe und mit vielen von Stein erbauten Stallungen etc. versehen, zu welchem 100 Morgen Äcker und Wiesen gehören. Zur Seite des Hofes erhebt sich ein hohes steinernes Gebäude, das mit einem Wassergraben umgeben ist. Seine gewölbte Küche hat das besondere, daß sie gleich einem Keller in der Erde steht und in der Mitte einen Brunnen hat.«
Ein wenig spürt man noch von der Stille, die die Holzhausen-Oede in ländlicher Abgeschiedenheit umgeben hat, wenn man den Holzhausenpark besucht - eine grüne Oase im Frankfurter Häusermeer. Das Gut wurde 1910 an die Stadt verkauft und zu einem reizvollen Park umgestaltet.
Dort, wo heute der Hessische Rundfunk sein Domizil mit Hörfunk- und Fernsehstudios aufgeschlagen hat, standen einstmals die Baulichkeiten des Kühhornshofes. Von ihnen blieb nur der wuchtige Verteidigungsturm erhalten, der gottlob erhalten blieb und restauriert wurde, aber inmitten der modernen Gebäude ein wenig deplaciert wirkt.
Wahrscheinlich bildete der wehrhafte Turm einen wichtigen Stützpunkt im vorgeschobenen Verteidigungssystem der Frankfurter Landwehr. Die im Rechteck angeordneten Stallungen, Scheunen und Schuppen müssen nicht unbedingt auf ein landwirtschaftliches Gehöft schließen lassen, sondern können ebensogut als Zufluchtsstätte für Mensch und Vieh gedient haben, wenn feindliche Truppen im Anmarsch waren. Diese Vermutung wird durch die Tatsache erhärtet, daß auch die Bockenheimer Warte behelfsmäßige Herbergen und Ställe besaß, in die sich die Bevölkerung mit ihren Habseligkeiten flüchten konnte, wenn Gefahr im Verzuge war.
Später freilich wurde die Befestigungsanlage zum landwirtschaftlichen Betrieb ausgebaut. Da Wassergraben und Umfassungsmauern die Ausdehnung des Hofes begrenzten, mußten die Wohn- und Wirtschaftsgebäude auf engem Raum zusammengepfercht werden. So war im Haupthaus nicht nur ein Saal untergebracht, sondern das Dach mußte für einige, übereinander angeordnete Getreidespeicher herhalten.
Nachdem das Gehöft in den Besitz des Frankfurter Patriziers Knoblauch übergegangen war, bürgerte sich für den Hof und den Gemarkungsteil die Bezeichnung Knoblauch ein. Die Spekulation, der Name könnte von der intensiv duftenden Gewürzpflanze hergeleitet werden, mag zwar recht reizvoll sein, führt aber in die falsche Richtung. Nach mehrmaligem Besitzwechsel erwarb im 16. Jahrhundert Bernhard Kuhorn das Gehöft; seitdem wird vom Kühhornshof gesprochen, wobei wir nicht darüber streiten wollen, ob das zweite H zu Recht eingeschoben wurde. Für den unbefangenen Leser ergibt die Schreibweise mit dem zweiten H eine sinnvollere Bedeutung. Mitunter wurde das Gehöft auch Bertramshof genannt; es dürfte aber mit dem in der Nähe befindlichen ehemaligen Gutshof nur den Namen gemeinsam haben.
Aus dem Jahre 1861 stammt der folgende Bericht über den Kühhornshof.»Eine halbe Stunde vor der Stadt nach Norden zu liegt einsam auf der Hochebene der Kühhornshof von einem breiten und tiefen Wassergraben umschlossen. Obgleich im Laufe der Jahrhunderte seines Bestehens vielfach Umgestaltungen über ihn dahin gegangen sind, so hat er sich doch sein altertümliches Gepräge bis auf die Gegenwart so ziemlich zu erhalten gewußt. Nun aber droht ihm allmählich der Untergang. Es ist an der Zeit, vor seinem gänzlichen Verschwinden ein möglichst genaues Bild von ihm der Nachwelt zu überliefern.
Links, ehe man an die zu dem Haupteingang führende Brücke gelangt, liegt in einer Vertiefung ein alter Brunnen, dessen Abfluß den Graben füllt. Die Rückwand der die Vertiefung umfassenden Mauern ist zinnenartig abgetreppt und trägt in einer Blende etwa 6 Fuß über dem Boden ein altes, leider durch Unwissenheit und Roheit bereits arg zerstörtes Steinbild. Es stellt einen Fuchs dar, welcher eine Laute trägt, umgeben von einem Maulwurf, einer Feldmaus, einer Kröte und sonstigen, als dem Feldbau schädlich angesehenen Tiere.
Nun war aber im Mittelalter eine für Feldfrevel übliche Pönitenz, das Tragen einer Laute oder Geige "Geigetragen". Es soll diese Strafe durch das Steinbild veranschaulicht werden, indem die mit dem Fuchs abgebildeten Tiere sich auf die FeldfrevIer beziehen. Es war diese Stätte ein sogenanntes Feldgericht.«
Um die Mitte des 19. Jahrhunderts hatte das Anwesen wiederum seinen Besitzer gewechselt - nicht gerade zu seinem Vorteil. Der neue Besitzer (Fam. Rothschild) war mehr an der Spekulation mit den Grundstücken als an der ordnungsgemäßen Bewirtschaftung der Äcker und Wiesen interessiert. Auch den Gebäuden schenkte er nur wenig Aufmerksamkeit, und schon nach wenigen Jahren befand sich der Hof und seine Umgebung in einem erbarmungswürdigen Zustand. Dennoch wurde das alte Gehöft noch nach dem Zweiten Weltkrieg landwirtschaftlich genutzt, bis ein Aussiedlungsbetrieb in der Nähe des Bonameser Bahnhofs gebaut worden war.
Wo von einer Großen Oede die Rede ist, liegt es nahe, daß es auch eine Kleine Oede gibt. Die Kleine oder Stalburger Oede lag ebenfalls vor dem Eschenheimer Tor in der Nähe des schon erwähnten Gemarkungsteil »Am Affenstein«. Es war wohl mehr der Sommersitz eines wohlhabenden Frankfurter Bürgers als ein Gehöft, in dem ernsthaft Landwirtschaft betrieben wurde. In der Nähe des Anwesens befand sich das Stalburger Brünnchen, ein idyllisches, von alten Bäumen umgebenes Plätzchen, das wohl oft zum Ziel von Landpartien gewählt wurde.
...Man soll die Feste feiern, wie sie fallen. Diesem Grundsatz huldigten auch die Frankfurter, und wenn sie die Kirchweihfeste glücklich hinter sich gebracht hatten, blieben »immer noch die drei Tage der Weinlese, die auch jene, die nichts zu ernten haben, in den rings um die Stadt verstreuten Gartenlauben und Pavillons mit Hingebung feiern.« So steht es in dem Buch »Frankfurt 1822 und heute«, erschienen 1972, nachzulesen. Der Verfasser fährt fort: »Schon nachmittags läßt man die Arbeit ruhen, zieht, mit Essen und Trinken reichlich versehen hinaus, um sich bei Gelag und Tanz zu erfreuen. Ein Hauptvergnügen an diesen Tagen ist das Schießen mit Flinten und Pistolen und mit Anbruch der Nacht das Abbrennen von allerlei Feuerwerk, das Jung und Alt mit seinem Geprassel und seinen leuchtenden Himmelszeichen ergötzt.
Wenn auch der Weinbau rings um Frankfurt zurückgeht und mehr und mehr zugunsten des Obstbaus, namentlich eines zum Mosten geeigneten Apfels, aufgegeben wird, so finden sich am Mühlberg und am Röderberg doch noch ansehnliche, qualitativ dem Rheinwein durchaus vergleichbare Lagen. Auch die Menge ist respektabel: In einem guten Herbst rechnet man mit einem Ertrag von 200 Stück, das sind etwa 24 000 Liter.«
Die Weinlese muß im alten Frankfurt ein wahres Volksvergnügen gewesen sein, das alle anderen Feste weit in den Schatten stellte. Dafür gibt es zwei namhafte Zeugen.
Goethe beschreibt die von harter Arbeit angefüllten Tage und Wochen, die schließlich in heitere, lebensvolle, trunkene Nächte einmünden: »Nach mancherlei Früchten des Sommers und Herbstes war aber doch zuletzt die Weinlese das Lustigste. Diese Tage der Weinlese, indem sie den Sommer schließen und zugleich den Winter eröffnen, verbreiten eine unglaubliche Heiterkeit. Lust und Jubel erstreckt sich über die ganze Gegend. Des Tags hört man von allen Ecken und Enden Jauchzen und Schießen, und des Nachts verkünden bald da, bald dort Raketen und Leuchtkugeln, daß man, noch überall wach und munter, diese Feier gern so lange als möglich ausdehnen möchte. Die nachherigen Bemühungen beim Keltern und während der Gärung im Keller gaben uns auch zu Hause eine heitere Beschäftigung, und so kamen wir in den Winter hinein, ohne es recht gewahr zu werden.«
Und von Friedrich Stoltze stammt die nachfolgende Erzählung in Frankfurter Mundart über die Tage der Weinlese: »... Also, während der drei Herbstdaag' war in Frankfort un' Sachsehause die Doorsperr' uffgehowe.
Daher kam's dann aach, daß sich die Berjerschaft des zunutz gemacht hat un' bis dief in die Nacht enei mit alle nur denkbare Schußwaffe, Rakete, Frösch', Schwärmer un' Feuerrädcher geknallt, gebufft, gezischt un' Feuer gespeuzt hat, daß es e' Freud' war. In alle Privatgäärde um die Stadt hat's gekracht un' sin' die Rakete in die Luft gestieje; un' in de Wirtsgäärde.... da war mer seines Lebens net sicher.
War'n so Frankforter Herbstdaag', die gewöhnlich in die Woch' nach dem 18. Oktober gefalle sin', von schöön' Wetter begleit', da is' nachmiddags ganz Frankfort lewendig worn. Alles is'enaus geströmt vor die Door'n, in die Gäärde, Wingerte und Wertschafte.
E' Frankforter Herbstfeier hat awwer aach dazumal noch en Sinn gehabt. Dazumal hat's noch e' bissi mehr Wingerte un' Weinberg' um Frankfort erum gegewwe als wie alleweil. Dazumal war'n vom jetzige Hanauer Bahnhof (dem alten Ostbahnhof) an bis an's End' vom Röderberg nix als lauter Wingerte. Un' dribb' in Sachsehause war'n auf dem Mühlberg un' Sachsehäuser Berg, wo jetzt Felse-Keller an Felse-Keller stehn, nur Wingert an Wingert. Zu beide' Seite' vom Sandweg bis enuff nach Bernem war Weinberg an Weinberg. Vor'm Eschemer Tor drauß', zu beide' Seite' von der jetzige' Eschemer Landstraß' war Wingert an Wingert. Ewe'so am Grüneburgweg. Der ganze Bezirk dort war nix als Wingert un' Gemiesland. Korzum, Altfrankfort lag noch vor fünfzig Jahr'n buchstäblich in Wein un' Gemies'.
Es war e'Paradies
von Wein un' von Gemies',
von Rewe un' von Riewe -
Altfrankfort mußt' merr liewe!«
Wenn die Weinlese beendet war, wurden die Weingärten zum "Stoppeln" freigegeben. Jedermann durfte dann die hängengebliebenen Trauben einheimsen, und davon wurde natürlich rege Gebrauch gemacht. Mit Kind und Kegel ging es hinaus in die Weinberge, denn wer am schnellsten war, erhielt schließlich den Löwenanteil der Beute. Dabei ging es nicht gerade rücksichtsvoll zu, und stellte sich ein Zaun in den Weg, so wurde er kurzerhand beiseite geräumt. Nach dem Stoppeln sah mancher Wingert arg zerzaust aus - sehr zum Leidwesen der Besitzer, die dem Treiben oft hilflos und untätig zusehen mußten. Die hinterlassenen Schäden an Reben und Flur nahmen schließlich solche Ausmaße an, daß das Stoppeln untersagt werden mußte. Mancher arme, vom Durst wie andere ebenso geplagte Teufel mag dieses Verbot sehr bedauert (und vielleicht auch mißachtet) haben, denn das Stoppeln bedeutete doch für ihn die einzige Gelegenheit, sich seinen bescheidenen Anteil am Erntesegen der Weintrauben zu sichern.
Als der Wein im Jahre 1857 besonders gut geraten war, veröffentlichte eine Frankfurter Zeitung das folgende Gedicht mit einem Stoßseufzer des Heiligen Petrus:
Sankt Petrus rief durch des Himmels Spalten:
Oh, Herr, hier unten ist's nicht auszuhalten!
Das ist ein Gedusel
Von Bier und auch von Fusel.
Oh, Herr, laß geraten den Wein,
Sonst mag ich nicht Portier mehr sein!
... Vierzehn Mal, so wird behauptet, müsse der Winzer im Laufe eines Jahres um jeden Weinstock herumgehen, und gar nicht selten ist dabei die Hacke sein unentbehrlicher Begleiter. Und wenn der Winzer frühmorgens mit seinem Tagewerk im Wingert begann, dann trug er wohl die meiste Zeit des Jahres eine Hacke auf der Schulter. Jedem in der Gasse war er ein vertrauter Anblick, und so wurde die Hacke zum Symbol für einen Berufsstand, der sich der Pflege kostbarer Weingärten widmete. Schließlich bürgerte sich der Name Hecker als Berufsbezeichnung ein.
Auf die sorgsame Pflege des Bodens und der Kulturpflanzen kam es - damals noch viel mehr als heute - an. Es gab noch keinen Handelsdünger zu kaufen, mit dem man etwa begangene Bearbeitungsfehler hätte überdecken und ausbügeln können. Ein solcher Selbstbetrug war ausgeschlossen, und wer etwas ernten wollte, mußte schon fleißig die Hacke schwingen.
Treffender noch als Hecker umschreibt die Berufsbezeichnung Weingärtner die Tätigkeit des Winzers; sie wird auch heute noch im Württembergischen und in Österreich verwendet; mit ihr wird zum Ausdruck gebracht, daß die Arbeit des Winzers eng mit derjenigen des Gärtners verwandt ist, daß es auch bei den Rebenkulturen auf die pflegliche und sorgsame Behandlung ankommt. Ob der Name Weingarten auch im Hinblick auf die Parzellengröße der Weinberge gewählt wurde, mag dahingestellt bleiben. Natürlich waren die Stücke klein und forderten den Vergleich mit einem Garten heraus. Aber ausschlaggebend war doch wohl die Verwandtschaft mit der gärtnerischen Arbeit des Hegens und Pflegens; auch heute noch entzieht sich manche Arbeit im Weinberg der Mechanisierung.
Goethe ist in "Dichtung und Wahrheit" auch auf die Gärtnerei und den Weinbau eingegangen, die zu den Lieblingsbeschäftigungen seines Vaters gehörten. Viele städtische Bürger besaßen ihren eigenen Garten und bewirtschafteten ihn selbst, die einen aus wirtschaftlichen Gründen, die anderen mehr als Freizeitbeschäftigung. »Noch mehr Beschäftigung«, so schreibt Goethe, »gab ihm (dem Vater) ein sehr gut unterhaltener Weinberg vor dem Friedberger Tore, woselbst zwischen den Reihen der Weinstöcke Spargelreihen mit großer Sorgfalt gepflanzt und gewartet wurden. Es verging in der guten Jahreszeit fast kein Tag, daß nicht mein Vater sich hinausbegab, da wir ihn denn meist begleiten durften und so von den ersten Erzeugnissen des Frühlings bis zu den letzten des Herbstes Genuß und Freude hatten. Wir lernten nun auch mit den Gartengeschäften umgehen, die, weil sie sich jährlich wiederholten, uns endlich ganz bekannt und geläufig wurden.«...
...Nachdem die Stadt mit den umliegenden Ortschaften zu einer wirtschaftlichen Einheit zusammengewachsen war, soweit es die Agrarwirtschaft betraf, bestand auch die Notwendigkeit, weit vor der Stadtmauer eine weitere Befestigungsanlage zu errichten. Die Landwehr schützte auch die unmittelbar vor der Stadt liegenden Felder. Es handelte sich um ein Befestigungswerk, bei dem die Warten (Wachtürme) durch Doppelgräben miteinander verbunden waren. Diese Gräben waren am Rande und im Mittelstreifen mit Büschen und Bäumen bepflanzt worden, so daß eine nahezu undurchdringliche Hecke entstanden war. Sie sollte das umschlossene Frankfurter Gebiet in Fehdezeiten gegen berittene Scharen schützen. Immer wieder wurde der Versuch unternommen, das Weidevieh fortzutreiben, Feldfrüchte zu erbeuten oder aber Menschen zur Erpressung von Lösegeld zu verschleppen. Wenn der Wächter auf einer der Warten eine Gefahr herannahen sah, so steckte er einen roten Korb heraus oder zog eine Fahne auf. Ein solches Zeichen genügte den Landleuten und Hirten, sich mit ihrem Vieh in Sicherheit zu bringen. Jede Warte besaß einen mit hohen Mauern umgebenen Fliehhof mit Scheunen und Ställen, in dem Mensch und Vieh Zuflucht fanden.
So behaglich, wie sie uns rückblickend erscheinen mag, war die "gute, alte Zeit" gar nicht. Zeitgenössische Berichte geben ein lebendiges Bild von der Armut und Not, die insbesondere in den Dörfern herrschte, Heinrich Ludwig läßt den Greifensteiner Amtmann Maulius über die Zustände im Jahre 1636 zu Wort kommen: »Wer kann allen Jammer, so jetziger Krieg hat angerichtet, genugsam beschreiben! Auf dem Felde ist alles verheeret, die Weinberg und Äcker sind verwüstet, die Wiesen zerfahren, zerritten und vertreten; die Gärten zerrissen, die Gewächs und Früchte verderbt; das Vieh gemetzget und verzehrt. Was vor dem Kriege gleichsam ein Lustgarten gewesen, ist itzund eine wüste Einöde worden. - Sind nicht alle Gewerb, Nahrunge und Hanthierunge gestockt und auß dem Land getrieben; Ist nicht jedermann geplündert und alles dasjenige, daran viel Mühe und Arbeit zusammen gebracht und entwehret?«
Der Verfasser gibt seinem Kronzeugen recht, wenn er schreibt: »Diese Worte sind keine Übertreibung, sie gelten für die Jahre 1634 bis 1636 auch für Bockenheim, da die Nachbarn längere Zeit geflohen waren, Gras und Dornen auf den Straßen wuchsen und die Wölfe umherstreiften.
Namentlich sind die Weinberge nach und nach verschwunden, was man auch daran sieht, daß 1664 die Weingartschützen abgeschafft worden sind. Den Reben fehlte die andauernde Pflege; sie sind dann verkommen. Manch ein Weinbauer mag sein Land verkauft haben, um die vielen Kontributionen bezahlen zu können. Auf einer Ackerkarte des Schönhofes von 1754 ist nur die heutige Leipzigerstraße 2-4 noch als Weingarten gezeichnet. Alle übrigen sind eben zu Äcker geworden und dienten der Ernährung.«
Immerhin konnte Frankfurt sich während des dreißigjährigen Krieges noch einigermaßen glücklich preisen, und Walter Gerteis hat recht, wenn er schreibt: »Mainz wechselte dreimal den Besitzer, Friedberg wurde viermal belagert, Heidelberg geplündert, Marburg schwer zerstört, Höchst viermal gebrandschatzt, die Dörfer ringsum verödeten, in den meisten von ihnen lebte kaum noch eine Seele, die Äcker verfielen, das Vieh verendete, die Kriegsfurie zog hin und her über das Land - und Frankfurt lag mitten darin wie eine Insel!«
Die Verhältnisse änderten sich auch in der folgenden Zeit nicht grundlegend, so daß wir in einem zeitgenössischen Bericht zu Goethes Lebzeiten nachlesen können: »... und die Landbewohner in den Dörfern der Stadt, von denen jetzt Sulzbach und Soden zugleich Kurmainz gehören, während Niederursel mit den Erben der Cronberger, den Grafen zu Solms, geteilt worden war, standen als Leibeigene tief unter den Bürgern, wenn ihre Behandlung auch nicht hart war: sie waren zu Frondiensten verpflichtet, keiner durfte heiraten, wenn nicht vorher zwei gestorben waren, und oft wurde das Gesuch um Entlassung aus der Dienstbarkeit, damit man auswärts heiraten könne, abschlägig beschieden....«
»... Die Neuzeit hatte einen gewaltigen Einbruch in das harmlose Zusammenleben der Nachbarn einer Straße gemacht. Die Brunnenrollen, so hießen nämlich die Listen, in die jeder in die Brunnengemeinschaft eintretende, das heißt eingehende Bewohner eingetragen wurde, wodurch er zu Beiträgen und sonstiger Teilnahme verpflichtet war, wurden aufgelöst, die alten, schönen Brunnen teilweise entfernt und neue (ob bessere?) an deren Stelle gesetzt, wodurch, da die Nachbarschaft kein gemeinschaftliches Interesse mehr hatte, dem Zusammenleben ein gewaltiger, sehr fühlbarer Stoß versetzt wurde.«
Das jährlich stattfindende Sachsenhäuser Brunnenfest hat nicht nur eine Altfrankfurter Tradition wieder aufleben lassen, sondern macht seinem Namen alle Ehre; es hat sich eingebürgert, daß der Brunnenschultheiß auf seiner Brunnenfahrt die Brunnen besucht, die in Sachsenhausen im Laufe der Jahre neu errichtet wurden.
Auch 1864 hat die Stadt ihr Gesicht noch nicht wesentlich verändert. »Die Eschersheimer Chaussee«, schreibt Walter Gerteis, »ist nur ein kleines Stückchen über den Grüneburgweg hinaus besiedelt; dann ist sie eine wirkliche, staubige Landstraße, die eine gute Wegstunde weit nach dem Dörfchen Eschersheim zieht. Die langgestreckte Irrenanstalt auf dem Affenstein, dort, wo sich viel später das Verwaltungsgebäude der IG-Farben erheben soll, lag für die Frankfurter damals weit draußen.
... Im Osten gibt es noch die Bornheimer Heide. An der dünn besiedelten Merianstraße beginnt die lange Pappelallee, die quer über die Heide nach Bornheim führt.
. . . Machen wir einen Sprung, mitten hinein in die Stadt! Die Zeil endet 1864 noch an der Konstablerwache. Den Platz dort nannte man den "Dalles". Seit vielen Jahren versammelten sich auf ihm alljährlich die "Fulder", die Landarbeiter männlichen und weiblichen Geschlechts aus der Fuldaer Gegend. Sie verdingten sich im weiten Umkreis als Knechte und Mägde...
Allzu groß können die Unterschiede zwischen Dörfern und Städten im frühen Mittelalter nicht gewesen sein, wenn man einmal von den Befestigungsanlagen der Städte absieht. Auch Frankfurt bildet da keine Ausnahme, wie es verschiedenen Berichten unschwer zu entnehmen ist. Als die Häuser der Stadt über die Braubachstraße hinauswuchsen, bildeten die sogenannten "Gräben" eine neue Bebauungsgrenze: Hirschgraben, Holzgraben, Baugraben, Wollgraben. Im allgemeinen Sprachgebrauch hieß das davor liegende Gelände "In den Gärten"; ihren Namen haben die Flächen nicht zu Unrecht getragen, denn sie wurden hauptsächlich als Gartenland genutzt. Aber dazwischen haben sich auch gewiß Äcker geschoben, die von den Gutshöfen Frankfurter Bürger aus bewirtschaftet wurden. Es gab keine klar gezogenen Grenzen, und fast unmerklich begab sich der Spaziergänger aus den Gassen der Stadt in die angrenzenden Gärten, die wiederum allmählich in die Äcker und Wiesen der Frankfurter Feldmark übergingen und von den Wäldern begrenzt wurden. Als Frankfurt noch nicht über die eigentliche Altstadt hinaus gewachsen war, reichten die Gärten bis zum heutigen Anlagenring Auch nördlich der Stadt breitete sich ein Waldgürtel aus, der im Osten den Röderberg einschloß und im Westen bis zur späteren Galluswarte reichte. Getreide wurde auf den brachpflichtigen Äckern des Rieder-, des Friedberger- und des Galgenfeldes angebaut. Dabei waren die Grenzen zwischen Wald und Feldflur nicht zufällig entstanden; sie folgten vielmehr den unterschiedlichen Bodenverhältnissen. Die besseren Böden wurden landwirtschaftlich und gärtnerisch genutzt, während die weniger fruchtbaren Böden dem Wald vorbehalten blieben und die Wiesenflächen den Bachläufen folgten oder in feuchten Niederungen lagen.
Die Äcker wurden nach unseren heutigen Begriffen sehr extensiv bewirtschaftet und lieferten entsprechend niedrige Erträge. So war es durchaus üblich, von jeder Hufe Landes jährlich nur einige Morgen mit Stallmist abzudüngen. Große Armut herrschte in den Dörfern, die von der Landwirtschaft lebten und deren Bewohner leibeigen oder herdhühnerpflichtig waren; mit den Steuern befanden sich die Dorfbewohner häufig im Rückstand, und nicht selten mußte die Stadt mit Getreidelieferungen einspringen, damit die Dörfler den Anschluß an die neue Ernte fanden - trotz ihrer äußerst bescheidenen Ansprüche an das Leben.
Die Äcker wurden nach dem Dreifeldersystem bewirtschaftet. Friedrich Bothe beschreibt das so: »Das ganze Gelände war gedrittelt: vor Sachsenhausen hießen die Teile das Ober-, Mittel- und Unterfeld, vor Frankfurt das Riederfeld, Friedbergerfeld und Galgenfeld; ihre Grenzen wurden durch die Vilbeler Straße und durch die alte Friedberger Straße sowie den Ginnheimer Steg bezeichnet. Die Äcker und Wiesen der reichen Frankfurter, vornehmlich der Patrizier, waren, soweit sie sie nicht selbst bewirtschafteten oder Landsiedeln zur Bestellung überwiesen, in Zeit- oder Erbpacht gegeben, und zwar überwog die gerechteste Art der Pacht, daß man nämlich die Ländereien gegen Lieferung der Hälfte oder eines Drittels des Ertrages austat. Dadurch wurde die Härte vermieden, die darin lag, daß ein armer Pächter, auch in Zeiten des Mißwachses oder wenn der Hagel alle Frucht zerschlagen hatte, dennoch dem reichen Besitzer die Pacht in gleicher Höhe zahlen mußte wie in Zeiten guten Ertrages...
...Im Laufe des 18. Jahrhunderts wurden zwar immer weniger Rinder auf die Weiden getrieben, aber daraus kann nicht ohne weiteres gefolgert werden, daß die Rindviehhaltung wesentlich eingeschränkt worden wäre. Mittlerweile hatte es sich eingebürgert, die Tiere unter erheblich besseren Bedingungen auf den sogenannten Meierhöfen zu halten. Die Meierhöfe waren im Umkreis der Stadt entstanden, und nach und nach konzentrierte sich auf sie die Viehhaltung. 1777 zählte man 51 solcher Höfe, und auf ihnen wurden 512 Rinder gehalten. Ein durchschnittlicher Viehbestand von 10 Rindern pro Betrieb ist aus unserer heutigen Sicht lächerlich wenig, unter den damaligen Verhältnissen muß man jedoch von einem angemessenen Viehbestand reden. 14 der Meierhöfe lagen auf der Sachsenhäuser Seite und gaben 96 Rindern Futter und Quartier. Dazu gesellte sich noch eine stattliche Zahl von Tieren, die die Frankfurter Bürger in den umliegenden Dörfern als Pensionsvieh bei den Bauern untergebracht hatten. In diesem Zusammenhang sollte erwähnt werden, daß noch im Jahre 1927 eine unter ärztlicher Kontrolle stehende "Frankfurter Milchkur-Anstalt" ihre Kur- und Kindermilch, Yoghurt, Vollmilch in Flaschen, Trink- und Kur-Rahm anpries.
Auf die Dauer war es natürlich nicht gut möglich, die Tierhaltung im eigentlichen Stadtkern aufrecht zu erhalten. Es bedarf wenig Phantasie, um sich die Verhältnisse in den engen Gassen auszumalen, wenn bei ohnehin emsigem Leben und Treiben der Viehhirt am frühen Morgen sein Horn erschallen ließ, wenn sich an jedem Hoftor einige Tiere der vorbeiziehenden Herde anschlossen, bis sie schließlich die ganze Gasse für sich allein beanspruchte. Es kann damals kein großer Unterschied gegenüber den Zuständen auf dem Dorf bestanden haben...