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Aus „Frankfurt in frühen Photographien 1850-1914“, Dieter Baretzko (1977)

Wie sich die Stadt veränderte

Wie sich der Gegenstand zu dem ihn vermittelnden Medium verhält, wie sich die gebaute Stadt von der photographierten Stadt unterscheidet, ist Thema des stadtgeschichtlichen Teils dieser Darstellung.

Glaubt man den üblichen Frankfurt-Bildbänden, so war die Stadt vor ihrer Zerstörung im 2. Weltkrieg eine intakte Idylle aus Dom, Römerberg und mittelalterlichen Gassen, der prunkhafte Gründerzeit-Bauten und vornehme Villen zusätzlichen Glanz verliehen. Von anonymen Wohnquartieren und Fabrikzonen keine Spur.

Beschränkt auf diesen - obendrein fragmentarischen - Ausschnitt, steht dem unbefangenen Betrachter das Bild einer mittelalterlich geprägten Stadt vor Augen, schrumpft die Großstadt Frankfurt zusammen auf eine Art Kleinstadt-Idylle. Alt-Frankfurt ist damit ein fester Begriff im Bewußtsein der Frankfurter geworden. Es steht als Synonym für das »holde Geschachtel« schmaler Häuser und enger Gassen, für Behaglichkeit und Tradition. So konstituiert sich ein ideales Gegenbild zu der heute weitgehend als anonym erlebten Großstadt, deren Erscheinungsbild größtenteils von gesichtslosen Rasterbauten und Hochhäusern geprägt ist. Darüber hinaus besteht die Gefahr, daß sich dieses Idealbild auf die Einschätzung der Geschichte Frankfurts auswirkt, daß von der romantischen Erscheinung auf die gesamte Zeit geschlossen wird.

Solche Publikationen zeigen, wie einseitig man Frankfurter Stadtphotographie verwenden kann. Die Auswahl vermittelt ein Bild der Stadt, das der Wirklichkeit nicht annähernd entspricht. Die Photos werden wie unbestechliche Zeugen eingesetzt, die dokumentieren, »wie es wirklich war«.

Dieser Bildband versucht zweierlei, die Gesamtstadt bis 1914 zu vergegenwärtigen, einschließlich der Viertel, die noch nie — und bis heute nicht — als sehenswert galten, und die Photographie als Dokument der historischen Realität zu relativieren.

ENTWICKLUNG ZUR GROSS-STADT

Frankfurt war um 1850, zu Beginn des hier interessierenden Zeitabschnitts, eine eher geruhsame, wohl­habende Handels- und Bankenstadt mit stark provinziellen Zügen.

Der ursprüngliche Stadtkern um Dom und Römerberg, einst Zentrum für Handwerk und Handel, hatte seit etwa 1800 seine Funktion an das nördlich gelegene Gebiet um die Hauptwache verloren. Die dortige Neustadt wurde allmählich — und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts endgültig — zum eigentlichen Zentrum.

Nach der Schleifung der Befestigung zu Beginn des 19. Jahrhunderts wuchs die Stadt vor allem in westlicher Richtung weiter. Mit dem Westend entstand ab etwa 1810 ein neues Wohnquartier, gleichzeitig mit der Bebauung der ehemaligen Wälle. Einen bescheideneren Vorläufer hatte das Westend im Fischerfeld am Rand der Altstadt, bei dessen Bebauung Ende des 18. Jahrhunderts zum erstenmal die Trennung von Wohnen und Arbeiten realisiert worden war.

In der Gründerzeit, etwa ab 1870, dehnte sich die Stadt nach Norden und Westen in Richtung Galluswarte aus. Im Norden waren frühzeitig zwei benachbarte Ortschaften, Bornheim und Bockenheim, eingemeindet worden und hatten bedeutenden Flächengewinn gebracht, im Westen verfügte Frankfurt über eigenes unbebautes Gelände.

Vorläufigen Stillstand fand die Stadterweiterung mit der Anlage des Alleenrings, der als Parallele zu den Wallanlagen zwischen 1891 und 1910 erschlossen wurde. Dort etwa endete vor dem Ersten Weltkrieg die städtische Bebauung. Die Linien der zukünftigen Entwicklung waren aber schon 1910 durch die Eingemeindung von 11 umliegenden Orten abgesteckt. 1914 stand Frankfurt nach der Einwohnerzahl an achter Stelle unter den deutschen Städten und verfügte über ein auf weite Strecken unbebautes, ausgedehntes Stadtgebiet.

Der gesamte Veränderungsprozeß vollzog sich in zwei Phasen. Er folgte mit einigem zeitlichem Abstand der allgemeinen Entwicklung in Deutschland. Anfangs verlief er ungeordnet. Dies ist im wesentlichen der von den Verwaltungsorganen geduldeten oder geförderten Freizügigkeit zuzuschreiben, die dem einzelnen Unternehmer völlig die Initiative überließ. Ab etwa 1890 folgte die Phase der Großplanungen, in deren Verlauf ganze Stadtviertel neu entstanden und die Trennung der Stadt in einzelne Zonen sich voll durchsetzte. Hierbei übernahm nun die Stadtverwaltung die Rolle des Koordinators.

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß damit die für die moderne Großstadt typische Entwicklung durchschritten ist, deren vorläufigen Endpunkt der Soziologe Hans G. Helms folgendermaßen charakterisiert:

»Mit der Einteilung nach Klassen und Einkommen bzw. Besitz korrespondiert die Teilung der Stadt nach Funktionen. So trennt die moderne Stadtanlage die öffentliche Sphäre der Arbeit, des Handels und der Politik von der privaten Sphäre des Wohnens; und begreift man den Terminus Konsum (so) eng,...lediglich als den Konsum des sogenannten Endverbrauchers, . . . so trennt die Stadt schließlich auch noch die Sphären von Produktion und Konsum voneinander.«

Industrialisierung

Motor der Entwicklung Frankfurts zur Großstadt war, wie überall im Deutschen Reich, der wirtschaftliche Boom der Gründerzeit, insbesondere die Industrialisierung.

Im Jahr 1848 arbeiteten in Frankfurt 6 Betriebe mit Dampfkraft, 1875 gab es schon 196 Dampfmaschinen in der Stadt, 30 Jahre später waren es 650. Um die Mitte des Jahrhunderts beschäftigten einige wenige Fabriken eine kleine Anzahl von Arbeitern, die bedeutendste von ihnen, die Maschinenfabrik J. S. Fries, annähernd 200. Das war weithin die Ausnahme, normalerweise bestand die Belegschaft einer Fabrik zu dieser Zeit in 5 bis 20 Arbeitern. In den nächsten Jahrzehnten wuchs die Frankfurter Arbeiterschaft sprunghaft an, z. B. auf 23.931 imJahr 1882, 44.587 im Jahr 1895. Diesen Zahlen korrespondieren die Einwohnerzahlen. Zwischen 1850 und 1905 nahm die Frankfurter Bevölkerung um fast 500% auf 334.978 Personen zu. Alle diese Zahlen markieren Anfangs-und Endpunkt einer rasanten Entwicklung, die Umwandlung Frankfurts von einer eher geruhsamen Handelsstadt zur industrialisierten Großstadt in der Zeitspanne von knapp 40 Jahren.

Mitte des 19.Jahrhunderts war Frankfurt Zentrum des Handels- und Geldgeschäfts. Die kleinen Gewerbe-und Handwerksbetriebe, die unmittelbar für den Bedarf der eigenen Bevölkerung produzierten, fielen wirtschaftlich nicht ins Gewicht. Andere produktivere Arbeitsmethoden wurden in der Stadt nicht zugelassen, um dem Handwerk die Konkurrenz vom Leibe zu halten, es sei denn, die neuen Unternehmer betätigten sich in Produktionsbereichen, die vom bodenständigen Handwerk nicht abgedeckt waren. Aber selbst genehmigte Industrien hatten es schwer, die Erlaubnis zum Betrieb einer Dampfmaschine zu erhalten.

Die Einführung der Gewerbefreiheit 1864, die dem Handwerk das Monopol entzog, hatte keineswegs einen Industrieboom zur Folge. Das eingesessene Großbürgertum, darin einig mit den kleinen Gewerbetreibenden, verhielt sich weiterhin ablehnend gegenüber Niederlassungsgesuchen von Unternehmern. Es hatte außerdem wenig Zutrauen in die Qualifikation Frankfurts als Industriestandort. Aber auch interessierten Fabrikanten war die Ansiedlung erschwert mangels Bodenschätzen und Rohstoffen, aufgrund hoher Bodenpreise und Tagelöhne in der Stadt und des unzureichenden Zustands der Verkehrsmittel, nicht zuletzt des Mains als billiger Wasserstraße. Trotzdem setzte nach 1871 auch in Frankfurt ein Prozeß ein, der, wenn auch erst in der zweiten Industrialisierungsphase des Deutschen Reichs, die wirtschaftliche Situation der Stadt in den 80er Jahren unübersehbar veränderte und gegen Ende der 90er Jahre zu einem industriellen Aufschwung ohnegleichen geführt hatte. Der teilweise Verlust des Börsen- und Bankgeschäfts nach 1866 an Berlin wurde durch die neuen Fabriken wettgemacht. In erster Linie waren dies Unternehmen der Weiterverarbeitungsindustrie, insbesondere auf den Sektoren Metallverarbeitung und Maschinenbau, Elektrotechnik, Feinmechanik, Chemie, Lederverarbeitung, Schrift und Druck. Hinzukamen hochwertige Konsumgüter wie Kleiderkonfektion, Parfüme, Nahrungs- und Genußmittel. Standort der Fabriken waren die früher oder später eingemeindeten Vororte Bornheim, Bockenheim, Oberrad, Rödelheim, Heddernheim, im alten Frankfurt selbst das Gelände um den Hauptbahnhof, Sachsenhausen und der Frankfurter Osten, der mit einem neuen Hafen am Main ab 1909 erschlossen wurde.

Vergleichende Untersuchungen zu Berufszählungen hatten schon für 1895 ergeben: »Trotzdem Frankfurt im Vergleiche mit anderen Großstädten als eigentliche Handelsstadt bezeichnet werden darf, überwiegt doch die von Industrie und Gewerbe lebende Bevölkerung noch die zu Handel und Verkehr zählende, und zwischen 1882 und 1895 hat sich die industrielle Bevölkerung verhältnismäßig noch stärker vermehrt als die Handelsbevölkerung«.

Das industrielle Wachstum steigerte kontinuierlich das Angebot an Arbeitsplätzen. Jährlich strömten an die 7000 Neubürger in die Stadt. Das Arbeitskräftereservoir des umliegenden Landes war schier unerschöpflich, insbesondere aus den seit Jahrhunderten notleidenden benachbarten Mittelgebirgen. Die in Deutschland mit der Industrialisierung einsetzende Konzentration der Bevölkerung in den Städten vollzog sich in Frankfurt besonders rapide. In vier Jahrzehnten nahm sie um 337.536 Personen zu, wobei allerdings 92.000 auf Gewinne aus Eingemeindungen entfielen.

   1871        91.040

   1875        103.136

   1880        136.831

   1885        154.441

   1890        179.985

   1895        229.279

   1900        288.989

   1905        334.978

   1910        414.576

Die in der Sammlung des Historischen Museums erhaltenen zeitgenössischen Photographien lassen vom Industrialisierungsprozeß der Stadt wenig erkennen. Die traditionellen Übersichten zeigen immer wieder die Innenstadt samt Mainufer und Altstadt als repräsentative Fassade eines in Wirklichkeit längst anachronistischen Zustands. Aber die Industrie hatte ihren Standort erst weiter außerhalb oder höchstens in Randzonen des alten Stadtgebiets. Eine Ahnung der Veränderung gibt eine der raren Ansichten von Sachsenhausen, auf der mehrere Fabrikschornsteine zu sehen sind (Abb. 5. 73). Die Industriezentren oder die großen Fabriken im Osten und Westen wie etwa die Adlerwerke, die 1906 an die 3000 Arbeiter beschäftigten, oder die neuen Osthafenfabriken waren keine Objekte für die Kamera. So sind die wenigen Fabrikaufnahmen desto wertvoller, zumal sie für die frühe Phase der Industrialisierung in Frankfurt typisch sind: Die kleinen Fabriken stehen mitten zwischen Wohnhäusern. Die Trennung in Wohn-, Misch- und Fabrikzonen erfolgte erst 1891.

Wohnungsnot

Die Vermögensverhältnisse in Frankfurt zeigten krasse Unterschiede. 1908 etwa bezahlten 17,2% der Steuerzahler 93,4% der gesamten Einkommensteuer, wobei 25% der Bevölkerung mangels Masse davon überhaupt befreit waren. In der Stadt lebten 224 einfache und 160 mehrfache Millionäre. 1913 galten 87% der Bevölkerung als minderbemittelt.

Die Vermögensverteilung schlug sich unmittelbar in den Wohnbedingungen bzw. im Wohnungsbau nieder. Wohlhabende Unternehmer ließen sich, wie schon die kapitalkräftigen Großbürgerkreise zu Beginn des Jahrhunderts im Westend, später an der Forsthausstraße und im westlichen Sachsenhausen teure Villen bauen. Die mehr oder weniger aufwendigen Mietwohnhäuser um die Bockenheimer Landstraße und an den neuen Alleen, die Wohn- und Geschäftshäuser im Bahnhofsviertel und in einzelnen Straßen der Neustadt wurden vom mittleren Bürgertum bezogen, von Geschäftsleuten, Arzten, Anwälten und Privatiers.

Das Kleinbürgertum richtete sich in der vorhandenen Bausubstanz ein, indem es immer enger zusammenrückte. Häuser, die ehemals Wohn- und Produktionsbereich einer einzigen Familie gewesen waren, wurden nun Wohnstätte für mehrere Parteien. Der billige Wohnraum nahm zudem ständig ab, weil viele alte Häuser größeren und teureren Mietblocks weichen mußten. So stellte sich schon in den 60er Jahren Wohnungsnot ein, erst recht ab 1870 infolge des steten Zuzugs von Arbeitskräften. Zwar wurden in den Außenvierteln, im Nordend, im Westen in Richtung Bockenheim und Bornheim billige Mietshäuser mit kleinen Wohnungen gebaut, aber sie waren für viele Wohnungssuchende unerschwinglich. Manch einer fand letzte Zuflucht in den vom Krieg (1870/71) übrig gebliebenen Lazarettbaracken auf der Pfingstweide.

Statistische Daten über die Frankfurter Wohnbedingungen im Jahr 1895 mögen die Verhältnisse verdeutlichen. Von den ansässigen Familien lebten etwa

  6000 in Wohnungen von         1 heizbaren Zimmer

14300                                     2

13000                                     3

  6500                                     4

  4400                                     5

  2300                                     6

  2300                                     7 und mehr

»Zwei Drittel der Gesamtzahl der Familienhaushaltungen... mit nahezu 140.000 Bewohnern oder 60 Prozent der Gesamtbevölkerung befand sich also in Wohnungen von höchstens drei heizbaren Zimmern.«

1898 wies der Frankfurter Mieterverein anhand einer eigenen Untersuchung daraufhin, daß es an kleinen Wohnungen mangelte und daß die vorhandenen zum Teil unzumutbar seien. In den Altbauten der Innenstadt und im Kern von Sachsenhausen fehlte es oft an Küchen, von Bädern und Toiletten gar nicht zu reden. Viele Wohnungen waren feucht, baufällig und überfüllt. »Zu allen diesen Mißständen gesellten sich endlich noch ganz ungemein hohe Mietpreise. Elende Löcher, die teils gar nicht, teils höchstens von ein oder zwei Personen bewohnt werden sollten, kosteten oftmals 120,150,160,180, ja 200 Mark und mehr. Bei den Einkommensverhältnissen der ärmsten Schicht, um die es sich in diesen Wohnungen handelt, muß eine Wochenausgabe von 3 Mark für Miete schon als eine schwere Last gelten.«

Schon früh hatten einzelne sozial engagierte Bürger die Notsituation auf dem Wohnsektor gesehen und sich einer besitzlosen Bevölkerungsgruppe gegenüber zur Hilfe verpflichtet gefühlt. 1860 gründeten sie in Frankfurt die erste gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft. Gegen den Widerstand der freien Bauwirtschaft, der Mietshausbesitzer und sogar der Stadtverwaltung, die dadurch den Zuzug armer Leute ausgelöst sah, setzten sie den Bau von Einfamilienhäusern und Kleinwohnungen in Sachsenhausen durch. Anschließend war es jedoch nicht möglich, Mittel für dieses wenig lukrative Geschäft beizubringen. So folgten erst ab 1890 größere Wohnanlagen in den nördlichen und westlichen Stadtteilen und in der Altstadt. Mit Gemeinschaftseinrichtungen wie Vortragssälen, Lesezimmern, Kinderkrippen, Bädern u. a. versuchten sie die Wohnqualität der Siedlungen zu heben, denn die Wohnungen waren aus Kostengründen so knapp bemessen, daß sie den Bedürfnissen eines Familienlebens nicht genügen konnten. Die Vereinshäuser sollten diesen Mangel auffangen.

Wie dringend die Wohnungen gebraucht wurden, belegen folgende Zahlen: Für die 42 Wohnungen der Aktienbaugesellschaft für kleine Wohnungen in der Stoltzestraße lagen 250 Gesuche, für die 76 an der Friedberger Landstraße 425 vor.

Die etwa 20 existierenden gemeinnützigen Baugesellschaften hatten in 55jähriger Bautätigkeit -1860 bis 1915 - insgesamt 6800 Wohnungen errichtet, in denen 6,3% der Frankfurter lebten. Wahrlich ein niederschmetterndes Ergebnis, wenn man sich der 87% minderbemittelter Einwohner (1913) und ihrer Gesamtzahl von fast 415.000 Personen (1910) erinnert. Der Frankfurter Stadtarzt Dr. Spiess gibt 1896 eine zutreffende Beschreibung der Wohnverhältnisse: »Im Zentrum der Stadt wohnen, nach der Fläche bemessen, relativ weit mehr Bewohner, wie in anderen Städten, da die eigentliche Altstadt sehr eng gebaut ist Von der Außenstadt, die sich in der 2. Hälfte des Jahrhunderts Anfangs nur langsam bevölkerte und sich lange den Charakter einer Villen- und Gartenstadt in allen Teilen bewahrt hatte ist das Westend, mit 40% Einfamilienhäusern, am weiträumigsten bebaut. Gegen den Norden und Nordosten hin nimmt die Dichtigkeit stufenweise zu. Von allen Außenteilen der Stadt ist die frühere Bornheimer Heide im Nordosten, das in den letzten Jahren zugebaute äußere Nordend und der noch in der Entwicklung begriffene Stadtteil hinter dem Hauptbahnhof im Südwesten am dichtesten bevölkert. Die namentlich unter der Herrschaft der 1884er Bauordnung entstandenen vielgeschossigen Miethäuser bedingen, daß in den genannten peripherischen Bezirken sich im Verhältnis zur Fläche die Menschen enger zusammendrängen, wie in den alten Stadtteilen ... Es bedarf also kaum der Erwähnung, daß auch in Frankfurt, trotz der im Vergleiche mit anderen Städten weit günstigeren Verhältnisse, die Wohnungsfrage ihre volle Bedeutung hat.«

Weniger zurückhaltend urteilten die politischen Gegner der Stadtverwaltung anläßlich der bevorstehenden Stadtverordnetenwahlen für 1904: »Bei seiner Wohnungspolitik läßt sich Herr Adickes wesentlich von der Absicht leiten, das Proletariat möglichst in die Außenviertel, Nordend, Westend hinter der Galluswarte, Bockenheim und Bornheim zu drängen und die Innenstadt möglichst luxuriös auszugestalten, damit die Fremden, wenn sie vom Bahnhof her in die Altstadt kommen, von Frankfurt einen angenehmen Eindruck bekommen. Das ist auch der Zweck der Durchbrüche. Wo ehemals ein kleiner, fleißiger Gewerbestand wohnte und sich ehrlich und redlich ernährte, da werden jetzt Prachtbauten errichtet mit luxuriösen Läden, die natürlich ein kleiner Geschäftsmann nicht bezahlen kann. Diese werden mit den Arbeitern mehr und mehr in die Außenviertel gedrängt.«

Wieviel vermitteln die vom Museum gesammelten Photographien von der Wohnsituation der Frankfurter um die Jahrhundertwende?

Vornehme Villen, reiche Geschäftshäuser und repräsentative Mietshäuser sind ausreichend dokumentiert, entweder als Einzelobjekte oder im ganzen Straßenzug. Öfters waren wohl die Bauherren und Architekten der Einzelhäuser kurz nach deren Fertigstellung Auftraggeber des Photographen. Im Photo manifestiert sich ihr Stolz auf das neue Domizil, das Bild setzt ihm ein Denkmal. Weiterhin gibt es das Erinnerungsbild. Es hält das lange bewohnte Familienwohnhaus fest, ehe es, aus welchem Grund auch immer, der Spitzhacke zum Opfer fällt. Auch hier handelt es sich um Auftragsarbeiten einer gehobenen Schicht und entsprechend um anspruchsvolle Wohnbauten aus einer meist schon vergangenen Stilepoche

Je weiter man die soziale Stufenleiter hinabsteigt, desto dürftiger wird das Material. Die Mietblocks der nördlichen und westlichen Stadtteile fehlen fast ganz. Ihre schlichte Architektur, keine sehenswerte baukünstlerische Leistung, und die monotonen Straßenzüge interessierten die kommerziell tätigen Photographen nicht, weil sich dafür kein Abnehmerkreis fand wie etwa für die Prachtstraßen der Innenstadt. Die Mieter der Häuser kamen aus verständlichen Gründen als Besteller von Photographien nicht in Betracht.

Etwas besser ist es um die Häuser der gemeinnützigen Baugesellschaften bestellt. Einige der Siedlungen und Wohnblocks wurden kurz nach Fertigstellung photographiert, offensichtlich auf Wunsch der Baugesellschaften und vielleicht zum Zweck der Publikation.

Die Photographie als Quelle für die Wohnverhältnisse läßt viele Fragen offen. Was sie belegt, ist ausschnitthaft, einseitig, verschiebt die Gewichtung - als hätten die Frankfurter damals in ihrer Mehrheit in ansehnlichen, geräumigen, neuen Häusern gelebt. Von den wirklichen Bedingungen des Alltags, die sich auch gerade am Wohnhaus festmachen lassen, berichten sie wenig.

Infrastruktur

Bemerkenswert frühzeitig reagierte die Stadtverwaltung auf die sich abzeichnende Entwicklung. Noch ehe der Bauboom richtig eingesetzt hatte, nahm sie ein neues Abwassernetz in Angriff (ab 1867), nach Hamburg das älteste in Deutschland. Es wurde 1887, auch dies— im Vergleich mit anderen Großstädten frühzeitig, an eine Kläranlage angeschlossen. Der Typhus und andere epidemische Krankheiten gingen auffallend zurück, ein Grund mehr, sich in Frankfurt anzusiedeln. Noch bis ins 20. Jahrhundert macht die Stadt mit geringer Sterblichkeit Reklame.

Der wachsende Trinkwasserbedarf veranlaßte 1870 unter Beteiligung der Stadt die Gründung einer Aktiengesellschaft, die den Bau von Quellwasserleitungen aus Spessart und Vogelsberg betrieb. Die Wasserleitungs-AG ist typisch für die damalige Situation:

Oft führten private Gesellschaften öffentliche Bauaufgaben in eigener Regie aus. Später erwarb dann die Stadt diese lebensnotwendigen Einrichtungen, so auch 1876 die Wasserleitungen. Privatleute machten einerseits Geschäfte mit öffentlichen Bedürfnissen, andererseits wurden Einrichtungen erstellt, die die Stadt versäumte, rechtzeitig in Angriff zu nehmen, etwa Gaswerke, Straßenbeleuchtung, Straßenbahn. Zudem waren die finanziellen Mittel der Stadt zu allen Zeiten vielfältig gebunden, z. B. auch im unaufschiebbaren Schul- und Krankenhausbau als Folge der rapiden Bevölkerungszunahme.

Zur besseren Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln entstand 1877/78 die Markthalle in der Innenstadt, 1882/85 der städtische Schlacht- und Viehhof in Sachsenhausen. Während die beiden Gaswerke lange privatwirtschaftliche Unternehmen waren, ließ die Stadt das erste E-Werk im eigenen Auftrag bauen und betreiben. Brücken und Hafenanlagen im Osten und Westen waren Unternehmen der Stadt, die insbesondere der Niederlassung von Industriebetrieben Anreiz boten. Die Mainkanalisierung durch den preußischen Staat machte Frankfurt zum Rheinhafen und verbilligte Transport und Verkehr. Dies nutzte besonders der Metallindustrie, die auf die Rohstoffe von Rhein und Ruhr angewiesen war.

Die öffentlichen Bauten sind photographisch relativ gut dokumentiert, selbst die des technischen Sektors. Bauten wie der Hauptbahnhof, die Markthalle und die Brücken wurden als technische Hochleistungen den Rang von Sehenswürdigkeiten erhoben und genauso behandelt wie Opernhaus, Börse oder Justiz-gebäude.

UMBAU UND NEUBAU DER STADT

Neustadt

Die Neustadt, das heutige Frankfurter City-Gebiet, war der Stadtteil, welcher den Umstrukturierungen der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts am radikalsten ausgesetzt war. Rascher und gründlicher als im übrigen Stadtgebiet vollzog sich hier der Wandel von der individuellen Stadt mit unverwechselbarem, lokalem Gepräge zur anonymen Großstadt internationalen Zuschnitts.

Ursprünglich ein dünn besiedeltes, mit großen Garten und Höfen durchsetztes Areal, zeigt sich die Neustadt auf den meisten der frühen Photographien als eine barock und klassizistisch bebaute, weitläufige Stadt, mit deren Aussehen der Betrachter noch am ehesten die gängigen Schlagworte von Frankfurt als der damaligen »heimlichen Hauptstadt Deutschlands« oder dem »vierspännig fahrenden Frankfurt« verbinden kann.

Auf dieses Quartier allein paßt die Beschreibung des Komponisten Hector Berlioz, die eigentlich die ganze Stadt meinte: »Welch eine liebenswürdige, aufgeweckte Stadt, Tätigkeit und Reichtum macht sich überall bemerkbar, zudem ist sie wohlgebaut, glänzt und schimmert wie ein neues Hundertsousstück, und Anlagen, die im Stil der englischen Garten mit Sträuchern und Blumen bepflanzt sind, fassen es grün und duftig ein.«

Die Neustadt, ehemals Standort für Großviehmärkte und militärische Einrichtungen, hatte sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts zum eigentlichen Zentrum entwickelt.

An der Zeil, am Roßmarkt und in der Großen Eschenheimer Gasse war eine Fülle barocker und klassizistischer Großbauten und Palais entstanden, die einem kapitalkräftigen Großbürgertum zu Geschäfts-und Wohnzwecken, einem europäischen Reisepublikum als komfortable Gasthöfe dienten. Sie prägten den Ruf der Stadt als Ort, an dem die Hotels größer und schöner seien als andernorts Paläste.

Nach dem Einzug des Deutschen Bundestages in das Thurn- und Taxis‘sche Palais etablierte sich neben der Oberschicht aus Bankiers und Großkaufleuten ein adlig-höfischer Kreis von Diplomaten, dem die aufwendigen Bauten die angemessene Kulisse boten. Mit dem Zuzug der auf diese wohlhabenden Kunden zugeschnittenen Betriebe und Läden, der sich nach der Errichtung der Bahnhöfe und dem Zustrom zahlungskräftiger Reisender noch vermehrte, kündigte sich allmählich der Übergang der Neustadt zum Geschäftszentrum an.

Den Auftakt zur endgültigen sozialen und baulichen Umwandlung bildeten die 1860 einsetzenden Straßendurchbrüche. Anfangs waren sie wohl noch zur Anbindung an die vornehmen Wohngebiete um die Neue Mainzer Straße gedacht. Bald aber überwog das Bestreben, den sich immer mehr ausbreitenden Banken und Geschäften günstige Verkehrsbedingungen zu bieten.

Neben den für neue Straßen noch verhältnismäßig geringen Abbrüchen alter Bausubstanz nahmen die Abrisse zur Gewinnung von Bauplätzen für höhere Geschäfts- und Wohnhäuser kontinuierlich zu. Sie konzentrierten sich zunächst auf die älteren Hofanlagen. Bei geringem Abrißaufwand - wegen lockerer Bebauung - waren hier leicht große Leerflächen zu gewinnen. So verschwanden seit 1860 das Cronstettensche Damenstift mit seinen ausgedehnten Gartenanlagen, der Rahmhof, der Taubenhof und der Junghof sowie die Peterskirche mitsamt einem großen Teil des alten Friedhofs.

Verbunden mit dem Verlust dieser »grünen Inseln« war das Verschwinden historischer Bauten, an die sich ein großer Teil der reichsstädtischen Identität Frankfurts knüpfte. So wurden, trotz des Protestes der Konservatoren und entgegen der in anderen Städten geübten Praxis, neben zahlreichen historischen Wohnhäusern auch mittelalterliche Großbauten, wie die Konstabler-Wache und das Zeughaus, abgebrochen. Begleitet waren diese Maßnahmen im Zeil-Hauptwache-Gebiet von zahlreichen Abrissen und Umbauten in den anliegenden Straßen.

Der Funktionswandel in der Neustadt vollzog sich in den Jahren bis etwa 1880 noch unauffällig. Dem uninformierten Betrachter konnte es vorkommen, als bestehe dort noch die traditionelle Einheit von Wohnen, Produzieren und Konsumieren. In Wahrheit hatte sich hinter den barocken und klassizistischen Fassaden die Geschäftswelt etabliert, und die gehobene Schicht hatte die Wohnpalais allmählich verlassen. Die neue Nutzung der Gebäude führte, gerade auf der Zeil, nicht immer sofort zu deren Abriß. So wurde z. B. das Rote Haus für die Zwecke der Hauptpost zunächst nur vorsichtig umgebaut. Auch. in den Neubauten wurde der sich abzeichnende Trend zum reinen Geschäftsviertel nicht gleich aufgenommen. Viele neue Geschäftshäuser erhielten in den oberen Etagen noch Wohnungen.

So täuschen manche Photos, auf denen die schon Relikt gewordenen Straßenzüge noch für das Ganze stehen, eine weit gehend unveränderte Neustadt vor. Der radikale Umbau des Kerns der Neustadt setzte dann nach 1880 voll ein. Binnen weniger Jahrzehnte wurde aus den Plätzen und Straßen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts ein pompöses und protziges Geschäftszentrum, das mit der ehemaligen Bebauung nur die Baufluchtlinien gemein hatte.

Vom historischen Bestand der ehemaligen Neustadt blieb kaum etwas erhalten, wenn man die Baudenkmäler - Katharinenkirche, Hauptwache, Palais Thurn und Taxis, Eschenheimer Turm - ausnimmt. Ganze Viertel wurden neuen Geschäftsstraßen geopfert, so z. B. entstand als Verlängerung der Zeil 1881 die Neue Zeil, als parallele Entlastungsstraßen zu alten Gassen 1890 die Schillerstraße und 1893 die Goethestraße. Im einzelnen:

1881   Ost-Zeil                                                         50 Häuser
1890   Schillerstraße                                            ca   8 Häuser
1890   Vilbeler- und Hammelsgasse                           20 Häuser
1893   Goethestraße                                                60 Häuser
1893   Klinger- und Albusstraße                                 15 Häuser
1898   Kalbächer- und Gr. Bockenheimer Gasse    ca 10 Häuser
1898   Verbreiterung Stiftstraße                                20 Häuser Verlust

Dazu kamen zahlreiche Einzelabrisse, die nicht in der Statistik auftauchen.

Der letzte Schritt zur City einer industriell geprägten Großstadt waren -die seit der Jahrhundertwende auf der Zeil entstehenden Kaufhäuser. Damals übernahm die Zeil die ihr bis heute gebliebene Funktion als Straße des Massenkonsums.

Umbau und Neubau gingen in der Innenstadt Hand in Hand. Während Zeil, Roßmarkt, Goetheplatz und Große Eschenheimer Gasse völlig ihr Gesicht veränderten, entstand zwischen Großer Gallusgasse und Großem Hirschgraben das neue Viertel um den Kaiserplatz auf ehemaligem Gartengelände. Seine stadt-planerische Grundgestalt folgte, auf Frankfurter Maß verkleinert, Pariser Vorbild: Auf einem Platz trafen sich mehrere Diagonalstraßen. Dieses anspruchsvolle Planungsprinzip wurde auch in anderen, weit bescheideneren Stadtteilen angewandt und wirkte desto deplazierter, je einfacher die umgebenden Straßen waren, z. B. in Sachsenhausen am Südbahnhof. Die Frankfurter »Squares« und »Boulevards« der Gründerzeit sind ein Exempel für das rücksichtslose Umgehen mit der erhaltenen Stadt und die großsprecherische Komponente des Umbaus.

Die Vorgänge auf dem Bausektor vollzogen sich wildwüchsig, d. h. die öffentliche Verwaltung lenkte sie nicht durch den Erlaß eines Gesamtbebauungsplans. Wo gebaut wurde, erst recht, wie gebaut wurde, ja sogar, wie die Straßen verliefen, bestimmte letztlich das Profitinteresse von Bauunternehmern und Geschäftsleuten. Ein einsichtiger Frankfurter Bürger erkannte schon 1862 diese Praxis als Bedrohung des öffentlichen Interesses und ermahnte die Stadtver­waltung: »Unser gutes Frankfurt hat sich aus spießbürgerlichem Wohlbehagen bis zur Stunde so ziemlich planlos von einer Periode zur anderen seiner bisherigen drei Erweiterungen im 9., 14. und Anfang des 19. Jahrhunderts zu seiner dermaligen eigentümlichen Gestalt entwickelt. Wäre es nicht an der Zeit, jetzt, wo die vierte Stadterweiterung in vollem Gange, das bisherige kleinliche System zu verlassen und den einer Stadt wie Frankfurt würdigeren Weg großartig durchgreifender Reform einzuschlagen? Wäre es nicht an der Zeit, nach einem wohl durchdachten einheitlichen Plane nicht allein früher versäumtes nachzuholen, sondern auch der künftigen Entwicklung zugleich die rechten Wege vorzuzeichnen?»

Der Appell blieb ungehört. Weiterhin gab es keinen Gesamtbebauungsplan für Frankfurt, der die zukünftige Gestaltung des ganzen Stadtgebiets in sinnvoller Weise und zum Nutzen aller Einwohner festgelegt hätte. Die Verwaltung, von eigenen Bauaufgaben in Anspruch genommen, verließ sich auf die Initiative der privaten Bauwirtschaft, nahm deren Bebauungsvorschläge an, ja unterstützte sie finanziell in der Annahme, die Baugesellschaften dienten dem allgemeinen Wohl. So blühte die Boden- und Bauspekulation, die Quadratmeterpreise stiegen im Innenstadtbezirk um das Zehnfache an. Terrainunternehmer erwarben billiges Rohland, oft von der Stadt selbst, machten die Erschließung einschließlich Straßenpflasterung und -beleuchtung auf eigene Rechnung und verkauften die Parzellen teuer weiter oder bebauten sie vorher. Die Stadt beschränkte sich auf den Erlaß baupolizeilicher Bestimmungen, insbesondere in technischer und hygienischer Hinsicht. Sie waren so unzulänglich, daß die bauliche Verdichtung, die notgedrungen in der Altstadt und auch in Teilen der Neustadt herrschte, in die anschließenden Bezirke übertragen wurde. So kam es z. B. zu den bis zum letzten zulässigen Quadratmeter überbauten Hinterhöfen der Bahnhofsgegend und der engen Bebauung der nördlichen Stadtteile.

Erst unter Oberbürgermeister Adickes (1891—1912) nahm die Verwaltung ihre Verantwortung für die Gesamtplanung der Stadt ernst und versuchte, sie dem Zugriff privatkapitalistischer Interessen zu entziehen. Neben den reinen Geschäftsstraßen entstanden im ehemaligen Neustadtgebiet oder am Innenstadtrand eine Reihe repräsentativer Großbauten. Hier war auch die Stadtverwaltung als Bauherrin aktiv. Der Frankfurter Historiker Friedrich Bothe begründet dies 1913:

»Da aber die Unterhaltung der Stadt große Summen erfordert, ist es eine Notwendigkeit, die reichen Leute vom Fortziehen abzuhalten und andere Begüterte mit hohen Einkünften zu veranlassen, sich in der Stadt anzusiedeln . . . Infolgedessen haben die Stadtleiter das Bestreben gehabt, Frankfurt auch für Reiche zu einem angenehmen Aufenthalte zu machen. Durch Anlage schöner Straßen und durch die Errichtung prächtiger Gebäude wurde das Stadtbild verschönert«.

Das in diesem Zusammenhang wichtigste Gebäude ist das Opernhaus, das größte und teuerste Bauprojekt der Stadt auf dem Kultursektor, »in edler und reicher architektonischer und dekorativer Ausstattung«, angemessener Rahmen der großbürgerlichen Westendgesellschaft. Ahnlich exklusiv und repräsentabel waren das Städelsche Kunstinstitut und die Gesamtanlage des Palmengartens, dieser wiederum im vornehmen Westend, während der Zoologische Garten aufgrund seiner Ostendlage nicht hielt, was intendiert war, nämlich ebenfalls zum Vergnügungsetablissement der besseren Gesellschaft zu werden. Nicht von ungefähr hatten die Initiatoren des Zoos versucht, ihn mit dem Palmengarten zu verknüpfen (Abb. 5. 139, 148—155).

Wenn es um den Bauplatz für ein repräsentatives Objekt ging, war die Stadt mit Abrißgenehmigungen und Sonderregelungen großzügig, nicht nur in eigener Sache. Für die neue Börse der Handelskammer stimmte sie dem Abbruch von Rahmhof, Zeughaus und Marstall zu, bedeutenden Bauten der reichsstädtischen Zeit. Hatte sie schon das Opernhaus mitten in die Wallanlagen gesetzt, die eigentlich für die Bebauung gesperrt waren, so 1899 auch das städtische Schauspielhaus. Offentlicher Erholungsraum wurde zum Vergnügen einer kleinen Schicht der Gesamtbevölkerung entzogen.

Nicht wenig zum »prächtigen« Aussehen der Stadt trugen die Gebäude des preußischen Staates, der Handelskammer und verschiedener Banken bei. Allesamt waren sie Stein gewordene Demonstrationen der Macht, seien es nun Justizpalast, Hauptpost, Polizeipräsidium, Zentralbahnhof oder Börse und Banken. Durchweg waren die Gebäude in ihren Ausmaßen eindrucksvoll, erst recht in der Verwendung teurer Materialien wie Haustein, Eisen- und Bronzeguß, Marmor, Kupfer u. a. Sie verklärten ihre profanen Zwecke durch imposante schloßartige Architekturformen und waren für ihr Publikum zugleich erhebend und einschüchternd. Selbst beim Hauptbahnhof, dem bis 1915 größten Kopfbahnhof auf dem Kontinent, war die Zweckhaftigkeit aufgehoben in mächtigen Hallen und Glaskuppeln, marmornen Wandelgängen und überdimensionalen Wartesälen (Abb. 5. 145).

Westend und Wallstraßen

Frühe Photographien der Außenbezirke Westend und Wallstraßen zeigen von Grün umgebene Villen und aufwendige Mietshäuser. Sie vermitteln den Eindruck einer Gartenstadt. Bis in die 1860er Jahre wahrten diese außerhalb der Stadt gelegenen Viertel dieses Aussehen. Vor allem ihnen verdankte Frankfurt seinen Ruf, eine der schönsten und wohnlichsten Städte Deutschlands zu sein. Der architektonische Reiz der Bauten unterstreicht ihre Funktion als Oase der Ruhe für die Oberschicht der Stadt.

Ihren Ursprung hatten die bis 1860 gewachsenen Viertel in den vor allem seit dem 18. Jahrhundert häufigen Sommerhäusern vor den Toren. Anfänglich meist ohne großen Aufwand errichtet — oft lagen sie inmitten ausgedehnter Nutzgärten —‚ wurden die Sommerhäuser, insbesondere an den Mainufern und entlang der Bockenheimer Chaussee, gegen Ende des 18. Jahrhunderts zu weitläufigen Landsitzen ausgebaut. Mit dem Schleifen der Befestigung und der Anlage der Wallstraßen verstärkte sich der Exodus reicher Familien aus der alten Stadt. Neben den anspruchsvollen Mietsbauten der Wallstraßen kristallisierten sich bald die Neue Mainzer Straße und das Westend als bevorzugte Wohngegenden der Reichen heraus.

Entlang der Bockenheimer Chaussee und der Neuen Mainzer Straße reihten sich repräsentative Villen, in denen die finanziell und kulturell führenden Familien der Stadt residierten. Vor allem die frühen Bauten unterscheiden sich nur geringfügig voneinander. Ihre immer wieder betonte schlichte Eleganz ergibt sich aus genau aufeinander abgestimmten Proportionen und der sparsamen Verwendung architektonischer Schmuckteile. Der Vergleich mit ähnlichen Bauten anderer Großstädte (Hamburger Elbchaussee oder Berliner Westen) zeigt die Frankfurter Villen als hervorragende Vertreter eines von den führenden großbürgerlichen Schichten Deutschlands bevorzugten Stiles. In der Einheitlichkeit der Bebauung und dem gleichrangigen ökonomischen und sozialen Status seiner Bewohner bildete das Westend eine »Stadt in der Stadt«. Hierin unterschied es sich auch von den übrigen, die Stadt umgebenden, äußerlich so ähnlichen Vierteln, in denen die vom gehobenen Mittelstand bewohnten Mietshäuser überwogen.

Die Exklusivität des Westends manifestierte sich auch in der Einrichtung öffentlicher Institutionen, die den kulturellen Interessen der Bewohner dienten:

Kunstverein, Städelsches Kunstinstitut, Saalbau und später Opernhaus.

Mit dem Saalbauentstand 1861 einer der ersten, betont repräsentativen Großbauten in der Stadt. Als bei der Planung Vorschläge zur Errichtung einer Art Volkshalle gemacht wurden, verhinderten die Bewohner dies. Der Saalbau wurde zum vornehmen Konzerthaus, dessen Tore sich nur selten für Veranstaltungen anderer Bevölkerungskreise öffneten.

Die ersten Anzeichen der Umwandlung dieser »Gartenstadt« sind die Durchbrüche von Junghof- und Rothofstraße. Bald darauf folgte die Anlage der Kaiserstraße. Mit dem Anschluß an das Zentrum Hauptwache — Roßmarkt einerseits sowie dem neu entstehenden Geschäftsviertel im Bereich der Kaiser-straße andererseits waren die Voraussetzungen für einen Nutzungswandel geschaffen. Dank der ökonomischen Potenz seiner Bewohner blieb das Kerngebiet des Westends als Wohngebiet erhalten. Nur die in Zentrumnähe gelegenen Randgebiete, wie Mainzer Landstraße, Neue Mainzer Straße und der untere Teil der Bockenheimer Landstraße wurden nach und nach mit Banken- und Versicherungsgebäuden bebaut, die sich äußerlich jedoch kaum von den Villen unterschieden.

Trotzdem vollzog sich auch innerhalb des Westends ein tiefgreifender Wandel. Bei gleichzeitigem Rückzug einiger der reichsten Familien wurde das Westend zum Schauplatz ungehemmter Spekulation. In kurzer Zeit entstanden neue Straßenzüge mit luxuriös gestalteten und ausgestatteten Mietshäusern für den gehobenen Mittelstand, wurden die ausgedehnten Garten und Parks parzelliert und überbaut. Im Zuge der sich bis 1890 ständig steigernden Bautätigkeit wurden oft nur 50 bis 60 Jahre zuvor entstandene Bauten vernichtet.

Bis zum Ersten Weltkrieg blieb das Westend bevorzugtes Wohngebiet wohlhabender Schichten. Ob wohl seit den 1880er Jahren die Mietshäuser gegenüber den Villen dominierten, sich die Neue Mainzer Straße schon in die Banken-Klamm gewandelt hatte, signalisierte das Erscheinungsbild des Stadtteils immer noch ein großbürgerliches Frankfurt. Alle übrigen im Einflußgebiet des Zentrums gelegenen Viertel wurden schon während des wirtschaftlichen Aufschwungs der 1880er Jahre umgewandelt. Die Mietshäuser der Wallstraßen wurden von den gehobeneren Schichten verlassen und vom Kleinbürgertum übernommen.

Von der Gartenstadt blieb lediglich der noch heute von Beschneidungen bedrohte Ring der Wallanlagen.

ALLTAG IN DER GROSS-STADT

Um die Jahrhundertwende war Frankfurt mehr denn je Ziel eines gehobenen Reisepublikums. Dem verdanken wir eine große Zahl zeitgenössischer Reiseführer. Die folgenden Texte aus Reiseführern von 1889 bis 1913 beschreiben Straßen und Verkehr, Konsum und Kommerz, Unterhaltung und Vergnügen. Sie vermitteln einen Begriff davon, wie das alltägliche Leben in der Großstadt der Jahrhundertwende aussah.

Straßen und Verkehr

Was die Straßen betrifft, so sind von der annähernd 3 Millionen qm umfassenden Fahrbahnfläche etwa 59% mit Steinpflaster, 13% mit Asphalt befestigt, 26% besitzen Chaussierung und 2% Holzpflaster. Die Reinigung erfolgt in Tages- und Nachtreinigung, wöchentlich je nach Art der Straße und Bedarf 2—6 mal. Zwischen 500 und 600 Arbeiter sind mit 40 Kehrmaschinen und 40 Abfuhrwagen bei der Straßenreinigung beschäftigt (1910).

Verkehrsmittel für Fremde und Einheimische innerhalb der Stadt und deren Umgebung sind reichlich vorhanden und lassen überallhin das Getriebe einer wirklichen Großstadt erkennen. Diesen Verkehr vermittelt in erster Linie die elektrische Bahn, die von früher Morgenstunde bis tief in die Nacht nach allen Richtungen hin in Bewegung ist (1907).

Hauptlinie des Verkehrs: Hauptbahnhof-Hauptwache-Konstablerwache, bis 1 Uhr nachts in Betrieb. Hauptknotenpunkte des Verkehrs: Hauptwache und Konstablerwache — nach allen vier Richtungen (1913).

Auf den Städtischen Straßenbahnen werden im Jahr rund 90 Millionen Personen befördert und rund 25 Millionen Wagenkilometer geleistet. Dazu kommen die Vorortlinien und die Waldbahn mit 3—4 Millionen Personen (1910).

In jeder Droschke ist ein ausführlicher Tarif; jeder Kutscher ist gehalten, ihn auf Wunsch vorzuzeigen. Pferdedroschken können auch nachts bestellt werden durch Telephon an Schillerplatz und Schillerstraße; Kraftdroschken durch die Städtische Auto-Zentrale (1913).

Passagierfahrten mit Zeppelin-Luftschiffen: Station Frankfurt a. M. Annahme von Passagieren durch die Hamburg—Amerika—Linie, Abteilung Luftschiffahrt, Kaiserstraße 14. Luftschiffhafen und Flugplatz am Rebstock (1913).

INGENIEURBAUTEN 1875-1900

Chemische Fabrik Lucius & Saul, um 1885

22,7 x 27,3; C 25706 b Trockenplattenverfahren

Im Hof der Fabrik »pharmaceutischer und chemischer Präparate« Lucius und Saul im Öderweg 9 hat sich die Belegschaft zum Photographiertwerden versammelt. Links ist der Fuß des Schornsteins zu erkennen, der für die bereits 1836 eingerichtete Dampfmaschine notwendig ist. In den beiden größeren, ursprünglich als Wohnhäuser errichteten Bauten war die eigentliche Produktion untergebracht. Die geringe Zahl der Arbeiter und Angestellten deutet auf den bescheidenen, im Grunde noch manufakturmäßigen Zuschnitt des Unternehmens. Die Abbildung zum Vergleich zeigt die Lage der kleinen Fabrik zwischen baumbestandenen Garten und kleinbürgerlichen Mietshäusern in einem Gebiet, in dem Wohnen und Produzieren noch in unmittelbarer Nachbarschaft stattfinden konnte. Die in der photographischen Qualität bescheidene Aufnahme gehört zum Typus des Erinnerungsbildes, das Firmen auch heute noch gerne zu Anlässen wie z.B. einem Jubiläum in Auftrag geben. Die Belegschaft ist zu einer lockeren Gruppe arrangiert. Vorne sitzend mit übereinandergeschlagenen Armen und Beinen die Chefs Lucius und Saul. Neben ihnen ihre Söhne — oder sind es nur Lehrlinge? —‚ die einen Kistendeckel mit Firmenzeichen vorhalten. Die Arbeitnehmer gruppieren sich stehend in zwei Flügel. Links die Arbeiter; sie halten die Gegenstände, mit denen sie tagtäglich umgehen, wie Säcke, Bütten, Hammer in den Händen. Rechts die als »whitecollar«-Arbeiter gekleideten Angestellten. Der Herr mit Hut und Stock scheint mit dem Photographiertwerden vertraut zu sein; er präsentiert im bewußten Wegschauen dem Photographen sein modisches Profil. Alle anderen starren noch immer fasziniert in die Kamera.

WOHNHÄUSER 1900-1914

Die Rothschildallee, um 1910

20,8 x 27,5; C 28502 Trockenplattenverfahren

Seit den frühen 90er Jahren wurde der soziale Wohnungsbau aktiv; besonders nach der Jahrhundertwende sind größere, zusammenhängende Siedlungen entstanden, infolge hoher Bodenpreise vorwiegend in den Außenbezirken.

Näher am Innenstadtbereich wurden am Anlagenring, der ab 1891 als paralleler Straßenzug zu den alten Wallanlagen erschlossen wurde, neue Wohnquartiere errichtet, sozial abgestuft von vornehmen Villen an der Viktoriaallee (heute Senckenberganlage) im Westen bis zu einfachen Wohnblocks an der Habsburgerallee im Osten.

Die Häuser des abgebildeten Teils der Rothschildallee sind in einzelne Baugruppen zusammengefaßt. Sie lassen einen gewissen Aufwand an der Schauseite erkennen. Die geräumigen Wohnungen setzten wohl den unteren Mittelstand als Mieter voraus.

Der westliche Teil des Alleenrings, Hohenzollernplatz nördlich des Hauptbahnhofs und Viktoriaallee, wird in jedem Frankfurt-Führer nach 1900 als »großartiger Straßenzug« gelobt. Dort reihten sich die jüngsten Monumentalbauten der Stadt auf: Polizeipräsidium, Goethe-Gymnasium, Matthäuskirche, Eisenbahn-direktion, Festhalle, Oberpostdirektion, Viktoriaschule, Physikalischer Verein, Senckenbergisches Museum und Senckenbergische Bibliothek. Gegenüber, entsprechend der pompösen Nachbarschaft, »verschiedene schöne Villen« (Poppe, Frankfurt-Führer, um 1913, 5. 31).

Die Aufnahme der Rothschildallee macht das Prinzip des Anlagenrings deutlich. Die eigentliche Anlage verläuft in der Mitte zwischen zwei Fahrstraßen; ab und zu erfolgt eine platzartige Erweiterung. Mit wachsendem Verkehr ging der Charakter der Anlage, der von vornherein eingeschränkt war, gänzlich verloren.

Das Photo ist aus einem Haus an der Ecke Gün­thersburg-/ Rothschildallee aufgenommen. Schräg nach hinten verläuft die Martin-Luther-Straße. Die Anlage selbst ist noch jung wie die niedrigen Bäume zeigen. Es ging dem Photographen um die nüchterne Dokumentation einer der jüngsten Straßenzüge in Frankfurt.

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