Die großen Bibliotheken müssen sich den neuen Lesegewohnheiten anpassen. Sie sollten ihre Bestände digitalisieren - sofern diese nicht urheberrechtlich geschützt sind
VON ELISABETH NIGGEMANN
Als Google im Herbst 2004 das Projekt der Digitalisierung von Bibliotheksbeständen bekannt gab, wurde wieder einmal deutlich, wie sehr sich die Welt der Bücher in den letzten Jahren verändert hat. Die Erwartungshaltung der Nutzer von Bibliotheken ist heute eine völlig andere, als noch vor 15 Jahren. War es vorher die Kernaufgabe von Bibliotheken, das Wissen der Menschheit und die Weltliteratur in gedruckter Form zur Verfügung zu stellen, so geschieht das heute immer mehr in elektronischer Form. Das Internet ist fundamentaler Teil des Informationsverhaltens der Menschen geworden und Bibliotheken suchen und treffen ihre Leser immer häufiger auch dort. Der Nutzer möchte alles jederzeit und überall zur Verfügung haben und der Dienstleister Bibliothekar ist gut beraten, den Wunsch so weit er darf und kann zu erfüllen.
Internetsuchmaschinen haben ihre Dienste auf gedruckte Publikationen ausgeweitet und bieten Volltextsuchen und Texte an, ganz oder als kleine Passagen am Bildschirm, sowie Links auf die Bibliotheken, die das Buch im Bestand haben. Jetzt den Rückzug aus diesem angestammten Dienstleistungsbereich anzutreten, wäre keine gute Strategie für Bibliotheken und schlecht für die Nutzer.
Deshalb erweitern Bibliotheken ihre Angebote um digitale Bibliotheken für die das Digitale gewöhnten Nutzer: Sie nehmen genuin digitale Werke, also Werke, die nie in gedruckter Form erschienen sind, in ihren Bestand auf. So wurde der gesetzliche Sammelauftrag der Deutschen Nationalbibliothek erst im vergangenen Jahr um Netzpublikationen erweitert. Sie digitalisieren gedruckte Werke und sie entwickeln bessere Portale, bessere Zugangswege, zu Katalogen und anderen „Buch-Surrogaten" - überall dort, wo der Volltext nicht oder noch nicht zur Verfügung steht. Die Konferenz der europäischen Nationalbibliothekare hat mit The Eu ropean Library ein Portal zu ihren Katalogen und zu ihren bereits digital vorliegenden Beständen geschaffen. Viviane Reding, EU-Kommissarin für Informationsgesellschaft und Medien, will mit ihrer Initiative i2010 European Digital Library einen integrierten Zugang zu Verzeichnissen und Beständen europäischer Bibliotheken, Museen und Archive schaffen. Sie hat die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union aufgerufen, Digitalisierungszentren einzurichten, um die Europäische Digitale Bibliothek mit Inhalten zu versorgen. Bis zum Jahr 2010 sollen mehr als sechs Millionen Kulturgüter auf diese Weise verfügbar sein.
Warum eigentlich muss es eine solche Initiative der EU, warum muss es die Bemühungen einzelner Bibliotheken um ihre Digitale Bibliothek geben, wo es doch Google und die anderen Internetsuchmaschinen oder Internetbuchhändler gibt? Ich sehe täglich, wie zuverlässig kommerzielle Suchmaschinen für die schnelle Beantwortung von Alltagsfragen sind. Sie sind allerdings weniger zufriedenstellend, sobald es um die Beantwortung von spezielleren Fachfragen geht. Hier ist und bleibt es die Aufgabe der Bibliotheken, erste Anlaufstelle - auch im Internet - bei Literaturwünschen zu Fachfragen zu sein. Dazu werden Digitale Bibliotheken dienen - in Zusammenarbeit von Bibliotheken mit kommerziellen Suchmaschinen, in Zusammenarbeit mit anderen Kultureinrichtungen, in Zusammenarbeit mit Verlagen und anderen Rechteinhabern.
Deshalb ist die Digitalisierung urheberrechtsfreier Werke durch wen auch immer zu begrüßen. Je mehr kulturelles Erbe auf diese Weise weltweit jederzeit genutzt werden kann, um so besser wird die bibliothekarische Dienstleistung sein. Je mehr Teilnehmer und je mehr Sprachen an den Projekten beteiligt sind, um so vielfältiger wird das Angebot sein.
Erst in der vergangenen Woche wurde die Teilnahme einer weiteren europäischen Bibliothek am Google Projekt bekannt (FR, vom 11. Januar). Und es ist gut, dass es sich bei der neuen Teilnehmerin um eine Bibliothek außerhalb des anglo-amerikanischen Sprachraums handelt, wird doch immer wieder die vermutete Dominanz der englischen Sprache bei den im Google Projekt entstehenden Digitalisaten kritisiert. Letztlich zwar zu Unrecht, denn der befürchtete „Sprachimperialismus" ist in den Sammlungen der bisher beteiligten Bibliotheken sehr viel weniger ausgeprägt, als vermutet wird. Große Universalbibliotheken sammeln eben sehr viel Fremdsprachiges. Aber je mehr nicht-englische Bibliotheken hinzukommen, desto geringer muss die Sorge der Kritiker sein.
Privat- öffentliche Zusammenarbeit
Eine spürbare Einschränkung des Programms ist selbstverständlich die Begrenzung auf urheberrechtsfreie Werke. Das deutsche Urheberrecht schützt die Rechte der Urheber noch 70 Jahre nach deren Tod. Das ist eine gute Regelung für die Literatur, für Autoren und Verlage. Für die Deutsche Nationalbibliothek kommt dadurch eine Teilnahme am bisherigen Digitalisierungsprogramm von Google allerdings nicht in Betracht. Da die Sammlung erst 1913 beginnt, fällt der überwiegende Teil der Bestände unter den Schutz des Urheberrechts. So können zwar keine digitalisierten Bücher aus dem urheberrechtsgeschützten Bestand angeboten werden, die Angebote an Informationssuchende sollen aber auf anderen Wegen ausgebaut werden, etwa durch Kooperation mit dem Projekt Volltextsuche Online des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, das vor allem den digitalen Zugang zu Neuerscheinungen und zur aktuellen Produktion der Verlage schaffen wird.
Das Google-Digitalisierungsprogramm ist ein Beispiel dafür, wie im Zusammenwirken von Privatwirtschaft und öffentlicher Hand öffentliche Digitale Bibliotheken aufgebaut werden können. Entscheidend ist dabei die Vertragsgestaltung, mit der die Rechte der Partner an den digitalisierten Werken geregelt wird. Für Bibliotheken ist eine solche Zusammenarbeit umso sinnvoller, je mehr eigenen Nutzen sie aus den Ergebnissen der Digitalisierung ziehen können, damit ihre Benutzer von dieser Partnerschaft profitieren.
„Google Print" scheidet in Europa die Geister. Der Direktor der Französischen Nationalbibliothek lehnt das Projektab. Elisabeth Niggemann, Leiterin der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt, meint-ähnlich wie der Brite Reg Carr (FR v. 11.1:)-, dass Privatwirtschaft und Öffentliche Hand bei den Digitalisierungsprojekten der großen Bibliotheken zusammenarbeiten müssen.
ELISABETH NIGGEMANN ist Direktorin der Deutschen Nationalbibliothek und Vorsitzende der Konferenz der europäischen Nationalbibliothekare. In dieser Funktion ist sie Mitglied der High Level Expert Group, die Vivian Reding beim Aufbau der European Digital Library berät.