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Aus : Frankfurter Rundschau vom 14.10.2006

Hüterin des unterirdischen Schatzes

Elisabeth Niggemann, die Generaldirektorin der Deutschen Nationalbibliothek, fordert von ihrem Team Widerspruch

VON FRIEDERIKE TINNAPPEL

Die Frankfurter Buchmesse, das waren für Elisabeth Niggemann „höchste Feiertage". Das Medium Buch werde „auf den Präsentierteller gehoben", das sei „gut für die Branche". Elisabeth Niggemann hütet „einen Schatz". Als Generaldirektorin der Deutschen Nationalbibliothek verwahrt sie in ihren Magazinen in Frankfurt, Leipzig und Berlin rund 20 Millionen Medieneinheiten - vom Comic zum Amtsblatt, vom Kochbuch zum Forschungsbericht, Noten, CD-Roms und natürlich jede Menge Bücher.
Wenn irgendwo in der Republik ein Printmedium von mehr als fünf Seiten und mehr als zehn Exemplaren erscheint, ist der Verleger verpflichtet, zwei kostenlose Exemplare an die Deutsche Nationalbibliothek zu schicken. So schreibt es das Gesetz vor. Ob das bei jeder Schülerzeitung funktioniert, mag dahingestellt bleiben.
Und was liest Niggemann selbst am liebsten? Beruflich muss sie sich durch Akten, Berichte, E-Mails wühlen. Diese E-Mails, die im Handumdrehen geschrieben und verschickt sind, seien „die Pest der heutigen Zeit". Sie mag es nicht, „dieses Hektische", und entspannt abends, oft spätabends bei einem Krimi. Morgens vertieft sie sich ausgiebig in die Tageszeitung - „zum Wachwerden und Reinkommen in den Tag".

Sie hat erst Biologie studiert und dann die Bücher für sich entdeckt

Elisabeth Niggemann hat Englisch studiert und beherrscht die Sprache, eine Fähigkeit, die ihr auf den vielen internationalen Konferenzen, die sie weltweit besucht, zugute kommt. Mit großem Vergnügen liest sie die Werke englischer Kriminalautorinnen. In diesen Büchern sei „alles so ordentlich". Es gebe ein Motiv und einen Täter, sie treffe immer wieder auf die gleichen Heldinnen. „Das ist wie Familie."
Apropos Familie: Ihr Mann hat erst wie sie eine Naturwissenschaft - bei ihm war es die Chemie, bei ihr die Biologie - studiert und dann das Bibliothekswesen entdeckt. Er arbeitet in einem Forschungszentrum in Jülich und wohnt auf dem Dorf. Sie hat sich eine Wohnung in Frankfurt-Preungesheim genommen. Am Wochenende wird gependelt. „Stressig, aber nicht zu ändern", sagt Elisabeth Niggemann trocken. Und dann wird zu zweit gekocht. „Gute französische und italienische Küche, viel Frisches, immer Salat"; beschreibt die Generaldirektorin den Speiseplan. Gegen ein Stück Fleisch oder Fisch hat sie nichts einzuwenden. Die Kleinmarkthalle, dieser Basar heimischer und exotischer Köstlichkeiten, sei einfach „wunderbar". Oft reicht ihr zum Einkaufen aber auch der Supermarkt um die Ecke.
Ihr Büro in der Nationalbibliothek wirkt großzügig, geräumig, hell, so wie der gesamte Neubau an der Adickesallee. Durch große Fenster kann sie im Süden sehen, wie die Flugzeuge auf ihrem Gleitpfad zum Flughafen schweben. Gen Norden türmen sich über dem Taunus dunkle Wolken, im Westen spielen sich hinter der Hochhauskulisse „traumhafte Sonnenuntergänge" ab. Um sich nicht abzulenken, hat Niggemann ihren Arbeitsplatz so eingerichtet, dass sie nicht hinaus, sondern gegen eine Wand guckt. Was für ein Verzicht, was für ein Pflichtgefühl!
Auch wenn sich die 360 Mitarbeiter der Bibliothek im Sommer nach einer Klimaanlage sehnen, auf die aus Kostengründen verzichtet wurde: Niggemann mag das Gebäude. Sichtbeton, Edelstahl, Glas, heller kanadischer Ahorn verbinden sich zu einer funktionellen und ästhetischen Einheit. Hier, an diesem Ort der Ruhe und der Reflexion macht das Arbeiten Spaß. In einem pompösen Prunkbau möchte sie nicht residieren. „Als Anglizistin liegt mir das Understatement mehr als das Pompöse", sagt Niggemann. „Wir sind nicht in die Höhe, sondern in die Tiefe gegangen." 19000 Quadratmeter groß ist das Grundstück an der Adickesallee, 16000 davon werden unterirdisch genutzt: Der „Schatz" von Elisabeth Niggemann liegt auf drei Etagen verteilt unter der Erde. Und er soll wachsen: Noch ist Platz für 18 Millionen Bücher. Das müsste bis 2035 reichen.
Hier ruht das „kulturelle Gedächtnis in schriftlicher Form" sagt Niggemann. Sammeln, bewahren, aber eben auch „zur Verfügung stellen" - das müsse die Nationalbibliothek. Und die Nachfrage nach dem kulturellen Erbe ist groß. Der Lesesaal mit seinen 340 Plätzen ist an manchen Tagen zu klein. Für fünf Euro am Tag kann man hier sechs Bücher bestellen und einsehen. Vor allem Studenten sitzen in dem Saal, lesen und verfassen Seminar- oder Abschlussarbeiten. In einem Text hat Niggemann einmal die „klare Position" ihrer Bibliothek „im Bereich der Produktivkraft Wissenschaft" betont.
Niggemann selbst hat die Welt der Bücher, ihren „Schatz", erst relativ spät entdeckt. Zunächst studierte sie mit großer Begeisterung Biologie, dann liebäugelte sie mit dem höheren Lehramt, um jedoch schnell festzustellen: „Das war einfach nicht mein Ding." Dann schaffte die Bibliothekarin in kurzer Zeit den Weg nach ganz oben.
In dem Sammelband „Frauen an der Macht", der im vergangenen Jahr von Maybrit Illner herausgegeben wurde, schreibt sie, Macht sollte als Chance begriffen werden, im Dialog mit anderen den großen Zielen näher zu kommen. Widerspruch ist der mächtigen Generaldirektorin ausdrücklich willkommen. Niggemann setzt auf das Team, auf Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen mit eigenen Ideen. „Ich brauche Kritik. Es wäre doch dumm zu glauben, ich allein hätte die Weisheit gefressen."
Ihr nächstes große Ziel ist der Aufbau einer virtuellen Europäischen Bibliothek. The European Library soll zeigen, dass „Europa mehr ist als eine Freihandelszone, eine Währungsgemeinschaft oder eine ferne Regierung, die Rahmengesetze verabschiedet", schreibt sie in ihrem Beitrag für das Buch, der den Titel „Macht wird uns oft erst bewusst, wenn sie uns fehlt" trägt. Es gehe aber auch darum, dem amerikanischen Suchmaschinen-Giganten Google „etwas entgegenzusetzen"; sagt sie. Nachdem Google angekündigt hatte, die Bestände fünf großer Bibliotheken zu digitalisieren, sei das europäische Projekt auf höchster politischer Ebene „ein bisschen als Gegenpol zu Google" beschlossen worden.
Niggemann, die Europäerin, macht keinen Hehl daraus, dass für sie der Begriff der Nation „mittlerweile positiv besetzt" ist. Als bekannt wurde, dass die Deutsche Bibliothek in Deutsche Nationalbibliothek umbenannt werden sollte, habe es „von draußen viel Prügel" gegeben. Mit der Fußball-Weltmeisterschaft hat es eine, für viele überraschende, Renaissance des Nationalen gegeben. „Da wurde gefeiert. Die Leute waren unbekümmert und haben viel Spaß gehabt."

Sie glaubt, das Buch behaupte sich auf Dauer gegen digitalisierte Texte

Wäre die Bibliothek nach der WM umgetauft worden, hätte es die Debatte über die Namensgebung vielleicht nicht mehr gegeben, meint sie. Gemeinsamer Kulturraum, eine Sprache, dieselbe Geschichte -„zu wissen, dass man da hingehört, gibt schon etwas Sicherheit". Das Bedürfnis nach Sicherheit werde in einer Welt, in der Arbeitslosigkeit und Klimawandel als Bedrohung empfunden werden, noch zunehmen. Mit dem neuen Namen wurde Niggemann auch ein neuer Aufgabenbereich anvertraut. Es sollen nun auch „körperlose" Publikationen gesammelt werden: Datensätze aus dem Internet, die deutsche Texte transportieren.
Wenn die 52-Jährige an die neuen Medien denkt, bleibt sie gelassen. Zumindest für die nächsten fünf bis zehn Jahre hat Niggemann keine Angst um das Medium Buch. „Ich selbst blicke lieber auf eine gut gestaltete Buchseite als auf den Bildschirm." Viele Menschen täten ja beides: das Internet nutzen und Bücher lesen. Auch die Internet-Kultur sei an den Text gebunden. Schließlich gibt sie dem Buch doch den Vorzug vor der Körperlosigkeit elektronischer Datensätze und wagt die Prognose: „Ich denke, wir werden eine auf dem Buch basierende Schriftkultur bleiben."

Übrigens...
Sie kommen viel herum in der Welt - was schätzen Sie an Frankfurt?
Ich genieße die Kultur, die es hier gibt. Die vielen Museen. Mein Mann und ich lieben Kino, vor allem englischsprachige Filme.
Sie reisen viel...
Deshalb ist der Verkehrsknotenpunkt Frankfurt für mich so wichtig. Mit der U 5 bin ich in wenigen Minuten am Hauptbahnhof. Zum Flughafen brauche ich maximal eine Dreiviertelstunde. Das ist einfach genial.
Und die Stadt selbst?
Ich liebe Städte, durch die ein Fluss fließt. Und ich habe den Eindruck, Frankfurt hat den Main wiederentdeckt.

PORTRÄT
• Elisabeth Niggemann wurde 1999 zur Generaldirektorin der Deutschen Nationalbibliothek berufen. Vorher war sie Direktorin der Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf.
• 25 Jahre hat die heute 52-Jährige in ihre Ausbildung investiert. Nach dem Abitur studierte sie zunächst Biologie und promovierte in dem Fach. Es folgte das Studium der Anglistik. Den Vorsatz, Lehrerin zu werden, gab Niggemann schnell auf. Im höheren Bibliotheksdienst fand sie ihre Bestimmung.
• In Dortmund wurde Niggemann geboren. Sie ist mit einem Chemiker verheiratet, der ebenfalls als Bibliothekar arbeitet.
• Die Backsteinmauer von Per Kirkeby ist das Wahrzeichen der Frankfurter Nationalbibliothek, die 1947 gegründet wurde und 1997 von der Zeppelinallee in die Adickesallee 1 umgezogen ist.
• Acht Millionen Medieneinheiten - Bücher, CD-Roms, Zeitschriften, Landkarten - schlummern in drei unterirdischen Geschossen. Der Lesesaal mit seinen 340 Plätzen wird täglich von mehrals 1000 Besuchern genutzt.
• In der Deutschen Bücherei in Leipzig, die bereits 1912 gegründet wurde, lagern über zehn Millionen Medieneinheiten. Dritter Standort der Nationalbibliothek ist Berlin mit den Deutschen Musikarchiv. FT

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