Touristenattraktion und Provokation Ein Altbau im Stadtteil Nordend hat Geschichte gemacht - hier wohnten die Stars der 68er Revolte. Ihre Wohngemeinschaften waren befreites Gebiet und Ausdruck des neuen Lebensgefühls: Erinnerungen an ein Experiment
Bei Stadtrundfahrten wurde es gern vorgezeigt, das Haus Bornheimer Landstraße 64 am Friedberger Platz. "Da wohnt Daniel Cohn-Bendit." Dany le Rouge - Sprecher des revolutionären Pariser Mai '68 - lebte dort in einer von insgesamt fünf Wohngemeinschaften, mit jungen Leuten aus der linken Sponti-Szene. Nein, das Haus war nicht besetzt, die Wohnungen waren gemietet, wenngleich zunächst auf Umwegen: Bei der ersten sprang das Studentenwerk ein, um dem misstrauischen Hausbesitzer für die Miete zu garantieren. Das war 1971.
WG, das klang so verdächtig wie sex and drugs and rock 'n' roll und war bei den braven Nachbarn im Kleine-Leute-Viertel Nordend so verrufen wie langes Haar und geflickte Jeans. Doch schließlich obsiegten Neugier und Gewöhnung, erzählt Maria. Sie jedenfalls amüsiert sich noch im Rückblick darüber, dass der Dany die Brötchen morgens beim Bäcker ungeniert im Bademantel holte. Maria, Handwerkersgattin und resolute Mutter von sechs Kindern, informierte sich aus erster Hand und saß bald bei Spaghetti-Gelagen mit am WG-Küchentisch. Manchmal ging sie auch mit zu den häufigen Demos im heftig tobenden "Häuserkampf gegen Wohnraumzerstörung" im citynahen Westend.
Die einzig verbliebenen alteingesessenen Mieter im dritten Stock links klagten freilich beharrlich über ungeputzte Treppen, laute Musik und den bei bodenständigen Frankfurtern damals verrufenen Knoblauchduft aus den italo- und frankophilen WG-Küchen. Aber vor allem störte sich die Familie - Mutter, Sohn, Schwiegermutter - an den niemals geschlossenen Türen. Die standen nicht nur aus Gründen der Bequemlichkeit offen - um nebenan schnell etwas ausleihen zu können. Der freie Zugang war vielmehr Programm."Wir wollten neue, kollektive Lebensformen ausprobieren", erzählt Klaus, damals Soziologie-Student in der WG erster Stock links; also jener, in der Joschka Fischer, späterer Bundesaußenminister, das größte Zimme hatte, weil er, so heißt es, die meisten Bücher besaß.
"Offenheit als Lebensgefühl, das brachten wir aus der Studentenbewegung mit. Doch, es funktionierte." So selbstverständlich, wie Klaus damals sein Auto verlieh, stellte er auch Klamotten, Zimmer, sein Bett zur Verfügung. Das Haus, ein maroder Altbau, hatte keine Bäder und wurde mühselig mit qualmenden Kohleöfen beheizt. Eine Wäscherei im Erdgeschoss schickte Dampfschwaden nach oben und der Friedberger Platz vor dem Haus war eine Tankstelle.
All dies scheint niemanden gestört zu haben. Unaufhörlich kamen Gäste, Leute aus der Szene, TV-Teams, die den roten Dany filmten, Genossen aus Italien und Frankreich, die sich bisweilen tage- und wochenlang einquartierten. Klaus, zurück von einem USA-Aufenthalt, fand einmal Rio Reiser in seinem Matratzenlager vor, und der Sänger von "Ton Steine Scherben", Kultband der Hausbesetzerszene in Frankfurt und Berlin, fragte ihn leutselig: "Wat suchste hier? Biste 'n Fan?" Ziemlich verblüfft war auch jene Hausbewohnerin, die nach einem Kneipenabend Margrit Schiller in ihrem Bett entdeckte. Die zu diesem Zeitpunkt nicht polizeilich gesuchte RAF-Frau schrieb in ihrer Autobiografie 2001, sie habe sich die Sponti-Genossen eben "mal ansehen" wollen. Andere Besucher führten anderes im Schilde, Buddy stahl Geld. Später stellte sich heraus, dass er der Polizei geholfen hatte, das unübersichtliche Treiben im Blick zu behalten - er spitzelte.
Ein offenes, ein öffentliches Haus. "Wir haben ständig diskutiert und zwar über alles!", erinnert sich Renate. Das Privatleben galt als politisch, war mithin Diskussionsthema - Beziehungsprobleme, sexuelle Schwierigkeiten, Machtansprüche und Eifersucht, damals inquisitorisch als "kleinbürgerlicher Besitzanspruch" gegeißelt. Diskussionen, die bisweilen in Kleinkriege ausarteten.
Die Wohnungen gruppierten sich neu, die Frauen separierten sich. "Das war eine Lebensform, da war ich stolz drauf", sagt Renate. Frauen-WG, eine Art Labor für die Neue Frau. "Wir wollten von Männern unbeeinflusst Solidarität zueinander entwickeln." Feste Freunde, Liebhaber waren erlaubt - als Besuch. Im Zeichen der sexuellen Befreiung warf auch Renate ihren BH in die Mülltonne, las begeistert die druckfrischen Schriften von woman's lib und demonstrierte mit ihrer WG gegen das Abtreibungsverbot. "Ich wollte auf gar keinen Fall ein Hausfrauenleben führen wie meine Mutter." Sie seufzt, als laste dieses Schreckbild noch heute auf ihr, der promovierten Politik-Wissenschaftlerin. "Damals hatten wir endlich das Gefühl, die Welt stehe uns offen." Schöne Zeiten, schwierige Zeiten. Und doch irgendwann vorbei. Ende der Siebziger begann der Rückzug aus dem befreiten Gebiet. Renate bewies sich allein auf großer Fahrt durch die USA und Mexiko, Klaus zog in eine ruhigere WG und konzentrierte sich auf Kulturtheorie. Politische Aufstiege kündigten sich an oder es kam das ganz normale Leben.
Erst nach gut 30 Jahren verschwanden im Treppenhaus der "Bornheimer" die Anti-Atomkraft-Aufkleber und Wandsprüche unter einem makellosen weißen Anstrich. Längst renoviert sind die Wohnungen, eine teilen sich zwei Frauen "eine Zweier-WG, wenn Sie wollen". Ansonsten junge und jüngere Paare, mit und ohne Kinder. Die Schlösser sind solide. Offene Türen indes im Erdgeschoss, wo die Wäscherei der Szene-Kneipe Harveys Platz gemacht hat - benannt nach Harvey Milk, jenem homosexuellen Stadtrat in San Francisco, den ein Fanatiker erschoss. Ob im Halbdunkel an den blanken Holztischen drinnen oder draußen auf der größten Terrasse des Nordends - hier zieht der Tag geruhsam vorüber. Die laute Tankstelle ist verschwunden, der unwirtliche Friedberger Platz zu einer urbanen Oase mutiert. Dank der Spenden umweltbewusster Anwohner ist er heute dicht mit Eschen und Ahornbäumen begrünt.
Michaela Wunderle, Jahrgang 1946, freie Journalistin, war aktives Mitglied der Studentenbewegung in Frankfurt.